Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes vom 26. Januar 2021 (Aktenzeichen 1 C 5.20) in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Bundesverwaltungsgericht – BVerwG) betrifft Fälle, in denen Deutsche aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu irgend einem Zeitpunkt in ihren Unterlagen eine Eintragung zu einer anderen Volkszugehörigkeit (als der Deutschen) haben (meist diejenige der nichtdeutschen Mehrheitsgesellschaft), die zum Zeitpunkt des Aufnahmeantrages als Spätaussiedler bzw. bei Verlassen des Siedlungsgebietes noch nicht korrigiert war. In genau diesen Fällen soll der Nachweis von Sprachkenntnissen, wie er durch die 10. Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) im Jahre 2013 als Bekenntnismöglichkeit geschaffen wurde, nicht für einen Nachweis des Bekenntnisses ausreichen. Vielmehr sind dann laut BVerwG weitere Prüfungen und Voraussetzungen notwendig.
Die Essenz dieser Entscheidung lässt sich aus dem Leitsatz des Urteils entnehmen: Bei Vorliegen eines „ausdrücklichen Gegenbekenntnisses“ reichen Sprachkenntnisse alleine für sich nicht als Bekenntnis „auf andere Weise“ im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG
Für eine richtige Einordnung dieser Entscheidung ist es wichtig, die Grundzüge des entschiedenen Falles zu kennen. Es ging um eine Person, die zwar den nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG möglichen Sprachnachweis als „Bekenntnis“ erbracht hatte. In dem im Aufnahmeverfahren vorgelegten russischen Inlands-Pass und in den Geburtskunden ihrer zwei Kinder war jedoch noch die Volkszugehörigkeit „Russisch“ eingetragen. Bemühungen der Person zur Korrektur dieser sowjetischen Eintragungen in den Jahren 1987 und erneut 2016 blieben erfolglos. Deswegen hatte das Bundesverwaltungsamt – trotz Sprachnachweis – den Antrag auf Anerkennung als Spätaussiedler abgelehnt. Der Antrag wurde also auf Grund eines „weiterbestehenden Gegenbekenntnisses“ der Antragstellerin abgelehnt und der Antragstellerin unterstellt, sie habe sich nicht wirksam von dem Gegenbekenntnis – also der Eintragung einer Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft durch sowjetische Behörden – abgewendet. Die Eintragung der russischen Nationalität durch sowjetische Behörden sei also wirksam geblieben.
Das Verwaltungsgericht (VG) Köln hatte die Klage der Antragstellerin unter Verweis auf das Gegenbekenntnis abgelehnt. Das angerufene Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster vertrat dagegen die Auffassung, dass in der damaligen Angabe (wohl 1977) der russischen Nationalität kein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis mehr vorliege. Seine Rechtsauffassung begründete das OVG mit Verweis auf die zu diesem Zeitpunkt bestehende Rechtsprechung des BVerwG zum Gegenbekenntnis und ließ die Revision zum BVerwG nicht zu. Im Erlernen der deutschen Sprache außerhalb der Familie sah das OVG unter dem sonstigen Tatsachenvortrag die Voraussetzung des Bekenntnisses zum Deutschtum als nachgewiesen an. Das BVA legte daraufhin Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ein. Das BVerwG hat dieser Beschwerde zwar stattgegeben, jedoch die ablehnende Haltung des BVA gerade nicht bestätigt, sondern die Klage zu weiterer Aufklärung an das OVG zurückverwiesen. Die abschließende Entscheidung des OVG Münster ist noch nicht veröffentlicht.
Zur Begründung der Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung führte das BVerwG im Wesentlichen aus, dass der reine Spracherwerb im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG nicht ausreicht, um ein zum Zeitpunkt der Entscheidung noch vorhandenes und „ausdrückliches Gegenbekenntnis“ zu ersetzen. Ob ein solches ausdrückliches Gegenbekenntnis noch vorliegen würde, sei zeitlich zum Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebietes zu prüfen. Das Gericht hat auch aufgezeigt, wann es inhaltlich von einem „ausdrücklichen“ Gegenbekenntnis ausgehen würde. Es müssten Zweifel an der inneren Hinwendung des Betroffenen zum deutschen Volkstum vorhanden sein. Bei Vorliegen dieses Verdachtes müsse weiter geprüft werden, ob ein sogenannter Bekenntniswandel zurück zum deutschen Volkstum wirklich stattgefunden habe. Deswegen kommt es auf die Umstände an, wie es überhaupt so einer solchen Eintragung gekommen ist, aus welchen Gründen Betroffene etwa wissentlich eine solche Erklärung abgegeben hätten usw.
Ausdrücklich wurde festgehalten, dass eine solche Erklärung der Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft unschädlich ist, wenn diese mit dem Ziel erfolgte, etwaige Nachteile bei Eintragung als Angehöriger der Minderheit (z.B. bei Bewerbung um einen Studienplatz, zur Vermeidung von Nachteilen am Arbeitsplatz etc.) zu vermeiden.
Das Gericht hat für die Notwendigkeit weiterer Prüfungen die rein formell entgegenstehende Eintragung nicht ausreichen lassen, sondern konkret das Vorliegen von „Zweifeln an einer inneren Hinwendung zum deutschen Volkstum und deren Erkennbarkeit für die äußere Umgebung“ auf Grund der Abgabe des Gegenbekenntnisses gefordert, um dann erst aus diesen Zweifeln die Notwendigkeit eines über den Spracherwerb hinausgehenden Verhaltens abzuleiten, um von dem noch vorhandenen Gegenbekenntnis abzurücken (Begründung 1 b) bb) vorletzter Absatz).
Wenn derartige Zweifel bestehen, dann ist zu klären, ob der Betroffene bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebietes durch „schlüssiges Verhalten“ gezeigt hat, dass er trotz dieser anderen Eintragung sich positiv zu einer Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum bekannt hat. Für das Vorliegen solch positiven Verhaltens wurde vom Gericht als Beispiel ausdrücklich benannt, wenn der Betroffene sich um eine Korrektur der falschen oder überholten (nicht mehr zutreffenden) Eintragung bemüht hat, selbst wenn diese Bemühungen dann erfolglos geblieben sind. Durch einen Rückverweis auf eine ältere Entscheidung (BVerwG 9C391/94) hat das Gericht zudem auch aufgezeigt, dass die Möglichkeit zu einer Berichtigung der Eintragung einer anderen Volkszugehörigkeit bis zum Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebietes besteht und dass bei Änderungen einer solchen entgegenstehenden Eintragung dann „ohne weitere Prüfung davon ausgegangen werden (kann), dass hinter einem solchen ausdrücklichen Erklärungsinhalt auch subjektiv der Wille und das Bewusstsein steht, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägte Kulturgemeinschaft anzugehören“. (BVerwG 9C391/94, Begründung, Ziff. 29). Auch der Beitritt zu einer Selbstorganisation der Deutschen in dem Herkunftsgebiet ist – so das Gericht – „grundsätzlich als Bekenntnis zum deutschen Volkstum anzusehen“.
Bewertung dieser Entscheidung
Genau und differenziert betrachtet, hat das Gericht klargestellt, dass nicht jede Eintragung einer sowjetischen Behörde zu einer (vermeintlichen) Volkszugehörigkeit als subjektives (ausdrückliches) Bekenntnis eines Betroffenen zu werten ist.
Erst bei „Zweifeln an einer inneren Hinwendung zum deutschen Volkstum und deren Erkennbarkeit für die äußere Umgebung“ geht das BVerwG von einem „ausdrücklichen“ Gegenbekenntnis aus und fordert erst bei Bestehen solcher Zweifel dann weitere Nachweisführung zum Bekenntnis. Damit trägt das Gericht zutreffend dem bekannten Umstand Rechnung, dass in den Staaten der Sowjetunion eine repressive Minderheitenpolitik mit bestehendem Assimilationsdruck häufig dazu geführt hat, derartige Eintragungen schematisch zur Mehrheitsgesellschaft vorzunehmen, ohne dass damit ein subjektiver Erklärungsinhalt der Betroffenen verbunden sein muss. Das BVerwG nimmt damit gezielt eine Abgrenzung einer zufälligen oder fremdveranlassten Nationalitäteneintragung ohne ausdrücklichen, subjektiven Erklärungswert des Betroffenen von einem „ausdrücklichem Gegenbekenntnis“ mit subjektiv gewolltem Abwenden des Bewerbers vom deutschen Kulturkreis und der Erkennbarkeit dieser Abkehr im Umfeld der Betroffenen vor.
Dass das für eine Anerkennung zuständige Bundesverwaltungsamt (eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat) diesen Inhalten der Entscheidung leider nicht folgt, sondern undifferenziert immer von einem „Gegenbekenntnis“ mit negativen Rechtsfolgen ausgeht (Diesen Schluss lassen etwa die Mitteilungen der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und Nationale Minderheiten, Natalie Pawlik, vom 20.6.2022 und erneut vom 22.2.2023 zu) halte ich für rechtswidrig.
Die Ablehnung der Anerkennung als Spätaussiedler trotz Sprachnachweis im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG bei einer vor Verlassen des Aussiedlungsgebietes korrigierten abweichenden Eintragung einer sowjetischen Behörde ist nach meiner Überzeugung ebenfalls rechtswidrig. Die neue Entscheidung des BVerwG betrifft überhaupt nur die Fälle, in welchen eine Korrektur vor Verlassen des Heimatgebietes nicht erfolgt ist. Die Bewertung jeder Eintragung einer abweichenden Volkszugehörigkeit – meist derjenigen der Mehrheitsgesellschaft – als „Gegenbekenntnis“ des Betroffenen – ohne Prüfung des Zustandekommens, der Begründung etc. – ist ebenfalls sachfremd und widerspricht der klaren Differenzierung des Urteils. Es kommt nach diesem Urteil explizit darauf an, ob ein Gegenbekenntnis zum Zeitpunkt der Entscheidung „noch“ vorhanden ist, und ob es sich um ein „ausdrückliches“ Gegenbekenntnis im Sinne der BVerwG-Entscheidung oder aber um eine zufällige Eintragung einer Sowjetbehörde handelt.
Es ist nicht nur ungerecht, sondern auch politisch höchst fragwürdig, wenn jede Zuschreibung von Angehörigen der deutschen Minderheit zur nichtdeutschen Mehrheitsgesellschaft durch sowjetische Behörden vom BVA unter Aufsicht der neuen Bundesregierung unkritisch als Ablehnungsgrund der vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelten Bekenntnismöglichkeit durch Spracherwerb gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG interpretiert und so zur Grundlage einer neuen hoheitlichen Entscheidung gemacht wird.
Dieses widerspricht der Lebensrealität in der damaligen Sowjetunion mit ihrer oft diskriminierenden und repressiven Politik gegen die deutsche Minderheit dort und es widerspricht auch der aktuellen Situation der deutschen Minderheiten in diesen Staaten: Es wird auch heute noch – mit deutlicher Unterstützung aller bisheriger Bundesregierungen und aller Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung seit Horst Waffenschmidt – ein reges Kulturleben als deutsche Minderheit gefördert und die Muttersprache erneut gepflegt und verbreitet. Davon konnte ich mir in meiner Zeit als Aussiedlerbeauftragter selbst bei vielen Dienstreisen und in Begleitung der dafür zuständigen Referate des BMI und des BVA ein klares und gesichertes Bild machen. Gerade die Förderung und Wiederbelebung der Muttersprache ist besonders wichtig, nachdem deren Verwendung zu Sowjetzeiten auf Grund des Kriegsfolgeschicksals der deutschen Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend nicht möglich war und oft zu Diskriminierung geführt hat. Die Unterdrückung der Muttersprache gehörte also zum Kriegsfolgeschicksal und darf Betroffenen gerade nicht zur Last gelegt werden. Von diesen Gedanken hat sich der Gesetzgeber bei Schaffung der 10. Novelle des BVFG im Jahre 2013 tragen lassen. Sie müssen auch weiterhin gelten und beachtet werden. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn das BVerwG sich hier klarer positioniert hätte, indem es die vom Gesetzgeber 2013 gewollte Erleichterung der Aufnahme für Spätaussiedler nicht durch in der Vergangenheit und in einem undemokratischen System abgegebene Bekenntnisse wieder in Frage gestellt hätte. Die Aufgabe einer Notwendigkeit des durchgehenden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und die Zulassung des B1-Zertifikats als Bekenntnisnachweis durch den Gesetzgeber sollten insgesamt ausreichen, um bei Nachweis des Spracherwerbs das vorherige Gegenbekenntnis als überholt zu betrachten. Es wäre daher sehr zu begrüßen, wenn die Aussiedlerbeauftrage der Bundesregierung ihrer neuen Ankündigung entsprechend nun eine Veränderung der restriktiven neuen Praxis und eine Anpassung an die Lebensrealität der Betroffenen herbeiführen würde, wie dieses auch vom BdV immer gefordert wurde.
Im Ergebnis wird daher Betroffenen empfohlen, gegen Ablehnungsbescheide des BVA, die den geschilderten Vorgaben des BVerwG widersprechen – etwa weil inzwischen korrigierte Eintragung anderer Volkszugehörigkeiten als Ablehnungsgrund verwendet wurden, oder weil ohne Differenzierung nach dem Zustandekommen und den Gründen für solche Eintragungen gestellte Anträge abgelehnt wurden – Widerspruch und dann Klage einzulegen. Für Klageverfahren kann Prozesskostenhilfe beantragt werden, so dass Betroffene nach deren Genehmigung kein Kostenrisiko haben.
Ganz wichtig ist es, die Anspruchsgrundlagen zur Anerkennung als Spätaussiedler vor einer Antragstellung genau zu kennen, diese zu prüfen und Anträge erst dann zu stellen, wenn diese alle erfüllt sind. Insbesondere müssen die Sprachkenntnisse bei Antragstellung belegt werden. Weil alle Voraussetzungen bei Entscheidung über den Antrag zusammen erfüllt sein müssen, ist ein Nachholen einzelner Aspekte in Rechtsmittelverfahren leider nicht erfolgreich.
Wenn etwa noch falsche Eintragungen zur Volkszugehörigkeit aus Zeiten der Sowjetunion in Urkunden fortgeführt und noch vorhanden sind, sollen diese nach Möglichkeit vor Antragstellung – am Besten so früh wie möglich! – berichtigt werden. Selbst wenn das nicht mehr möglich oder nicht erfolgreich ist, muss dann im Antragsverfahren belegt werden, dass jedenfalls Bemühungen dahingehend ernsthaft unternommen wurde. Auch sollten Betroffene dann bereits bei Antragstellung schildern und auch belegen, wie sich ihre Zugehörigkeit zu der deutschen Minderheit dargestellt hat und wie die Teilnahme am kulturellen Leben erfolgt ist. Die Umstände sollten möglichst anschaulich und mit Beispielen geschildert werden. Auch die Mitgliedschaft in den Selbstorganisationen der Minderheit ist wichtig und wurde vom Gericht ausdrücklich als Zeichen der Zugehörigkeit anerkannt. Informationen dazu erteilt jede Selbstorganisation der Deutschen in den Herkunftsgebieten. Letztlich können auch Verwandte, die bereits in Deutschland leben, alle Beratungs- und Informationsangebote der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sowie des Bundes der Vertriebenen (BdV) nutzen und Spätaussiedlerbewerber entsprechend informieren.
Bernd Fabritius
Die MDZ hat an den Experten zusätzliche Fragen gerichtet
Sehr geehrter Herr Dr. Fabritius, In den letzten Monaten erreichen uns zahlreiche Beschwerden über Ablehnungen von deutschen Landsleuten, obwohl diese ganze Stapel von Papieren vorgelegt haben. Was können wir diesen Landsleuten sagen?
Es kommt nicht auf die Menge der vorgelegten Papiere an, sondern auf deren Inhalt. Die drei Voraussetzungen für eine Anerkennung und Aufnahme als Spätaussiedler nach dem BFVG sind sehr klar geregelt: Es muss die Abstammung von deutschen Volkszugehörigen, die hinreichende Beherrschung der deutschen Sprache sowie ein Bekenntnis zur deutschen Nationalität belegt werden. Wie ein solches Bekenntnis möglich ist, wurde in § 6 BVFG ebenfalls geregelt und durch das besprochene Urteil differenziert. Betroffene sollten daher sehr genau vorher prüfen, ob alle diese Voraussetzungen erfüllt sind. Wenn auch nur ein Punkt nicht gesichert ist, müssen Betroffene diesen Punkt zuerst klären und dann erst einen Antrag stellen.
Viele Menschen verlassen auf Grund der Kriegsereignisse ihre Heimat, bevor sie alles klären konnten. Was können diese Landsleute nun machen?
Gerade um auf die für viele Landsleute völlig überraschende Kriegssituation zu reagieren und die sich daraus ergebende Fluchtnotwendigkeit nicht zu einem Verhinderungsgrund für die Anerkennung als Spätaussiedler werden zu lassen, habe ich mich unmittelbar nach Beginn der Kriegshandlungen als Aussiedlerbeauftragter, gemeinsam mit der sehr konstruktiv mithelfenden Fachabteilung des BMI, dafür eingesetzt, ein Härtefallverfahren für flüchtende Landsleute aus der Ukraine – aber auch aus der Russischen Föderation, wo Deutsche ebenso unter dieser Situation leiden – aufzulegen. Dieses Härtefallverfahren bedeutet, dass der Antrag und die Entscheidung darüber nicht wie im Gesetz vorgesehen noch vor dem Verlassen des Heimatgebietes gestellt und entschieden werden muss, sondern dass der Antrag auch nach der Flucht in Deutschland gestellt werden kann. Wichtig ist aber, dass selbstverständlich alle Voraussetzungen trotz dem bereits bei Antragstellung erfüllt sein müssen und unvollständige Anträge – etwa weil die Sprache noch nicht hinreichend beherrscht wird – leider abgelehnt werden.
Das Gesetz regelt darüber hinaus in § 4 BVFG eine Frist zur Antragstellung auf Aufnahme von maximal sechs Monaten nach Verlassen des Heimatgebietes. Diese Zeit müsste nach aktueller Rechtslage genutzt werden, um alle Voraussetzungen zu erfüllen.
Menschen auf der Flucht haben bekanntlich andere Sorgen, als etwa Belege beizubringen oder Sprache zu erlernen. Sechs Monate reichen dafür meist nicht. Was sagen wir diesen Menschen?
Dieses Problem sehe ich tatsächlich und habe deswegen gefordert, eine fluchtbedingte Abwesenheit aus dem Heimatgebiet nicht negativ zu werten, auch wenn diese länger als sechs Monate dauert. Flucht aus Kriegsgebieten ist ihrer Natur nach meist nur vorübergehend und dauert meist so lange, wie das zur Flucht führende Ereignis. Die Flucht darf nicht mit dem „Verlassen der Heimat im Wege des Aufnahmeverfahrens“ gleichgesetzt werden. Entsprechend dürfte die gesamte Zeitdauer des Krieges nicht in diese vom Gesetzgeber vorgesehene Sechs-Monats-Frist eingerechnet werden. Ob die aktuelle Bundesregierung sich dieser Forderung anschließen wird, kann ich noch nicht sagen. Ich wünsche mir hier die Unterstützung aller Entscheidungsträger. Nach meiner Meinung könnte das zuständige Bundesministerium des Inneren und für Heimat eine entsprechende Bewertung der Flucht aus dem Kriegsgebiet – unabhängig von ihrer Zeitdauer – durch Ministerentscheidung als unschädlich anordnen. Hier wünsche ich mir eine nachhaltige Unterstützung auch durch die derzeitige Aussiedlerbeauftragte und werde dieses Anliegen als Präsident des BdV im nächsten Spätaussiedlerbeirat vorbringen.
Wir beobachten die gehäuften Ablehnungen von Aufnahmeanträgen erst in den letzten Monaten. Die neue Aussiedlerbeauftragte, Frau Natalie Pawlik, hat in ihrer Mitteilung im Februar angekündigt, eine Änderung durchsetzen zu wollen und die Bereitschaft erklärt, die Aufnahme von Spätaussiedlern an die Lebensrealität der Menschen anzupassen.
Die Aufnahme von Spätaussiedlern konnte in der gesamten letzten Wahlperiode konstant hoch gehalten werden, sogar trotz erheblicher Herausforderungen durch die 2020 beginnende Corona-Pandemie. Im Jahr 2021 konnten über 7 000 Menschen aufgenommen werden, also mehr als in den Vorjahren. Dafür gebührt dem damals zuständigen Bundesinnenminister Horst Seehofer großer Dank wie auch der gesamten Fachabteilung des BMI und dem BVA sowie den Aussiedlerbeauftragen der beteiligten Länder, die meine Bemühungen sehr konstruktiv unterstützt haben. Dabei denke ich ganz besonders an Niedersachsen und Hessen, wo die Menschen zunächst angekommen sind, aber auch an Bayern, Baden-Württemberg, NRW oder Sachsen.
Die Kriegshandlungen in der Ukraine haben tatsächlich zu erheblichen Veränderungen geführt, die eine Anpassung des Aufnahmeverfahrens an neue Lebensrealitäten der Betroffenen erforderlich machen. Das habe ich schon immer gefordert und freue mich sehr, wenn nun von meiner Nachfolgerin im Amt eine Unterstützung dieser Bemühungen angekündigt wird.
Wichtig wäre unbedingt, dass dabei nicht nur neue Lebensrealitäten (etwa die Kriegssituation), sondern auch lange bekannte Sachverhalte bei einer überfälligen Kurskorrektur beachtet werden. Damit meine ich z.B. die häufig willkürlich oder zufällig vorgenommenen Zuschreibungen von Angehörigen der deutschen Minderheiten in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zur Mehrheitsgesellschaft anstatt zur deutschen Minderheit, die leider immer noch den Betroffenen als „Gegenbekenntnis“ zur Last gelegt werden, obwohl viele dieser Zuschreibungen Teil einer oft ausgrenzenden Minderheitenpolitik – und nicht Ausdruck einer Abkehr von ihrer eigenen Kultur unserer Landsleute gewesen sind.
Dabei hat die Aussiedlerbeauftragte auch erklärt, der restriktive Kurswechsel sei bereits unter Bundesminister Horst Seehofer a.D. und von Ihnen vorgenommen worden. Was sagen Sie dazu?
Das stimmt nicht! Erst nach der Bundestagswahl 2021 hat das BVA die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes gegenüber dem BMI thematisiert, mögliche Bewertungen vorgeschlagen, Konsequenzen dieser Entscheidung skizziert und die Absicht einer „Kurskorrektur“ angemeldet – also erst nach dem Wechsel von Bundesinnenminister Horst Seehofer zu Bundesinnenministerin Nancy Faeser.
Ich durfte bei der überhaupt ersten Beratung zu dieser Frage, damals bereits unter Staatssekretärin Juliane Seifert (SPD) und kurze Zeit vor meiner Entlassung, noch teilnehmen. Bei dieser Beratung habe ich meine ganz erheblichen Bedenken formuliert, so wie diese auch in der Urteilsbesprechung zu lesen sind. Leider wurde mir dann am 22. März 2022 bereits meine Entlassung mitgeteilt, am weiteren Geschehen war ich nicht mehr beteiligt.
Als mit dem Merkblatt zur Spätaussiedleraufnahme, das am 20. Juni von der neuen Aussiedlerbeauftragten veröffentlicht wurde, der Kurswechsel sichtbar wurde, war ich bereits Monate nicht mehr im Amt. Diesen bedauerlichen und nach meiner Überzeugung rechtswidrigen Kurswechsel nun rückwirkend den Verantwortungsträgern der vorigen Bundesregierung zuzuschreiben, wirkt angesichts dessen unredlich und verfängt nicht. Eine Umsetzung noch unter Bundesminister Seehofer, die nun behauptet wird, ist mir nicht bekannt. Das würde ja bedeuten, dass Entscheidungsträger im BVA einen Kurswechsel vorgenommen haben müssten, noch bevor die extra angeforderte und legitimierende Entscheidung der neuen Bundesregierung da war!
Das kann ich mir nicht vorstellen und möchte auch diesen impliziten Vorwurf gegen das BVA nicht stehen lassen. Ich habe das BVA und die allermeisten Mitarbeiter dort als sehr genaue und konstruktiv um Lösungen bemühte Kollegen erlebt, die sich unbefangen ihren Aufgaben widmen. Bei Umsetzung der Anerkennungsleistung für Zwangsarbeiter, die gerade auch vielen Russlanddeutschen zu Gute gekommen ist, oder bei Bewältigung der pandemiebedingten Herausforderungen der Aussiedleraufnahme in den Jahren 2020 und 2021 – um nur einige Beispiele zu nennen – wurde Hervorragendes geleistet. Dafür sage ich auch heute noch Danke!
Wir danken für das Interview.