
Vom 3. bis 5. September fand in St. Petersburg wieder der „D-Day“ statt, das schon traditionelle Dowlatow-Festival. Unter den mehr als 40 Veranstaltungen: Theaterstücke und Filme, Konzerte und Führungen, Workshops und Lesungen. Besondere Beachtung fand die Einweihung eines Denkmals für Dowlatows geliebte Foxterrier-Hündin Glascha. Sein eigenes Denkmal bekam der Schriftsteller schon 2016, bei der Premiere des Festivals. Ein weiterer Programmpunkt der diesjährigen, fünften Auflage fiel ins Wasser. Es heißt, der geplanten Foxterrier-Parade hätten die Behörden als Massenveranstaltung die Genehmigung verweigert. Richtig so! Im Vorfeld der Wahlen lässt man lieber niemanden durch die Stadt ziehen, selbst wenn es sich um Vierbeiner handelt.
Wer ihn zitieren konnte, gehörte dazu
Sergej Dowlatow wurde in Ufa geboren, wohin seine Familie aus dem belagerten Leningrad evakuiert worden war. Dorthin kehrte sie 1944 zurück. Dowlatows weiterer Weg: die philologische Fakultät, der Wehrdienst, erste literarische Erfahrungen und die Bekanntschaft mit Joseph Brodsky, dem künftigen Literaturnobelpreisträger. Danach eine Stelle bei der Zeitung „Sowjetisches Estland“ in Tallinn. Und schließlich – die Emigration. New York. Dort starb Dowlatow 1990 im Alter von 48 Jahren, kurz bevor er in der Heimat eine unfassbare Popularität erlangte.

Denn nun begann das ganze Land zu lesen, was so lange verboten war. Allein die Literaturzeitschrift „Snamja“ (Banner) erschien 1990 in Millionenauflage. Jede Ausgabe – eine Sensation. Doch für Dowlatow galten noch mal andere Maßstäbe. Wir Erstsemester an der philologischen Fakultät der Lomonossow-Universität zitierten den Autor, den wir so unerwartet für uns entdeckt hatten, rauf und runter. Das war ein wahres Ritual, so als ob wir Geheimcodes und Passwörter austauschten. Du weißt, was gemeint ist? Okay, dann bist du einer von uns. Nur wenigen Schriftstellern wird eine solche Verehrung zuteil.
Der Fanklub würde vielen, die ständig in den Medien sind, zur Ehre gereichen. Dowlatow selbst trat nie im Fernsehen auf und war auch in den Gesellschaftsspalten nicht zu finden. Seine Programme auf „Radio Swoboda“ hörten längst nicht alle. Heutzutage ist der Zusatz obligatorisch, dass der Sender in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft wird. Damit schließt sich ein Kreis. In seiner Erzählung „Filiale“ schrieb Dowlatow 1987: „In Russland ist Uskorenje und Perestroika. Dort werden Nabokow und Chodassewitsch gedruckt. Private Gaststätten öffnen. Die Rockband ,Dinosaurier‘ tritt auf. Aber unsere Sendungen werden weiter gestört, darunter auch mein nicht unbedingt voller Bariton. Man sagt, dafür werde viel Geld ausgegeben. Ich hätte da eine Idee: Wie wäre es, uns mit Hilfe dieser „Dinosaurier“ zu stören? Davon hätten doch alle etwas.“
Gestern, heute – die Übergänge sind fließend
Wie furchtbar vertraut das doch klingt. Die Organisatoren des St. Petersburger Festivals treffen mit ihrem Motto „Dowlatow kehrt zurück“ ins Schwarze. Er ist unglaublich aktuell.
Als man jetzt, im Vorfeld der Wahlen, Strafverfahren gegen aktive Oppositionelle eingeleitet und sie aus dem Land gedrängt hat, da habe ich mich bei dem Gedanken ertappt: Dowlatow lässt grüßen! In „Sapowednik“ (Reservat) warnt der KGB-Major Beljajew mit einem Gesicht „so durchschnittlich wie ein Bettwäscheknopf“ den Haupthelden: „Die Staatsorgane erziehen, erziehen, aber sie können auch strafen. Deine Akte ist dicker als Goethes Faust. Das Material reicht für 40 Jahre. Und denk dran, ein Strafverfahren ist keine Hose mit Streifen. Es lässt sich in fünf Minuten schneidern.“ Um einem solchen Finale zu entgehen, verlassen die heutigen Andersdenkenden Russland und lassen sich in Riga, Kiew oder Berlin nieder. So als hätte Dowlatows „Filiale“ als Vorlage dafür gedient, ein Buch über die russischen Emigranten in Amerika, traurig und voller Humor.
Oder der fabelhafte Roman „Der Kompromiss“. Zwölf Geschichten aus dem Leben eines Zeitungsjournalisten Anfang der 1970er Jahre. Zwölf Kompromisse. Auch das kennt man aus dem Hier und Heute, dafür braucht man nur solide russische Zeitungen aufzuschlagen oder den Fernseher einzuschalten. Aber man sollte lieber gleich zu Dowlatow greifen. Der liest sich im Übrigen ohne jede Anstrengung: kurze Sätze, einfache Wortwahl, leichter Stil – humorvoll, bitter, ohne erhobenen Zeigefinger.
Spiegelbild der Zeit und zeitlos
Doch Dowlatow allein in einen politischen Kontext stellen zu wollen, wäre eine Dummheit. Nicht Konjunkturelles, Ideologie oder der Zusammenprall irgendwelcher Ansichten machen seine Prosa aus. Ihm waren Schäbigkeit, Fanatismus und Schwindel zuwider, ganz egal, unter welchem Deckmantel sie daherkamen. Berühmt der Satz: „Nach den Kommunisten hasse ich am meisten die Antikommunisten.“ Erstaunlicherweise sind seine Bücher zwar vom Geist der Zeit durchtränkt, aber gleichzeitig auch zeitlos, universal. Seine Texte treffen einen Nerv tief im Inneren.
„Dowlatow kehrt zurück“? Für mich war er ehrlich gesagt nie weg. Es sind wir, die zu ihm zurückkehren. Zu seinem Haus in der St. Petersburger Rubinstein-Straße 23, wo die Mietshäuser wie vielerorts in der Stadt eng um einen kleinen Innenhof aufragen, der deshalb „Brunnen-Hof“ genannt wird. Zu den Puschkin-Bergen, wo Dowlatow als Fremdenführer gearbeitet hat und wo seine Erzählung „Sapowednik“ spielt. Zum New Yorker Stadtteil Queens, wo es heute eine Sergej-Dowlatow-Straße gibt. Und natürlich zu seinen Texten, die man auswendig kennt.
Aus seinen „Notizbüchern“: „Man kann in Ehrfurcht vor dem Verstand Tolstois erstarren. Die Eleganz Puschkins bewundern. Die moralische Suche Dostojewskis schätzen oder den Humor Gogols. Und so weiter. Aber sein möchte man nur wie Tschechow.“ Nicht nur. Auch wie Sergej Dowlatow, der beste russische Prosaiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Igor Beresin