Wer waren die Wjatitschen?

Im Südwesten Moskaus wurden mittelalterliche Grabhügel entdeckt, die dem Stamm der Wjatitschen zugeordnet werden. Wer waren diese frühen Bewohner des Moskauer Gebiets? Wie haben sie gelebt und was ist aus ihnen geworden? Die MDZ hat mit Experten gesprochen.

Eine Darstellung heidnischer Slawen von Nikolaj Speranskij (Foto: forum-msk.info)

Unscheinbar versteckten sie sich in einem Waldstück auf dem Gebiet des Städtebauprojekts Neu-Moskau. Sträucher und Bäume wachsen auf den vier etwa eineinhalb Meter hohen Kurganen, wie die Grabhügel hier genannt werden. Alexej Emeljanow, Leiter der Abteilung für Kulturerbe bei der Stadt Moskau, spricht von einem seltenen Fall und einem großen Erfolg für die Archäologie. Denn die Grabstätten stammen aus dem 12. oder 13. Jahrhundert und gehen vermutlich auf die Wjatitschen, einen ostslawischen Stammesverband, zurück. Doch wer waren sie?

„Die Wjatitschen waren ein Zusammenschluss mehrerer ostslawischer Stämme, die gegen Ende des ersten Jahrtausends nach Christus am Ober- und Mittellauf der Oka siedelten“, sagt Pawel Jermolow, leitender Forscher des Museums Zarizyno in Moskau. Die Oka ist ein rechter Nebenfluss der Wolga, der südlich Moskaus die Regionen Orjol, Tula und Kaluga durchfließt. Moskau existierte zu den Zeiten der Wjatitschen noch nicht, doch der Süden des heutigen Stadtgebiets gehörte zu ihrem Siedlungsraum. Tonangebend war damals Kiew. Die Kiewer Rus, wie man den altrussischen Staat gemeinhin nennt, erlebte ihre Blütezeit.

Ausgeprägtes Juwelierhandwerk

Um die Mitte des 10. Jahrhunderts begann die Kiewer Rus, das Gebiet der Wjatitschen unter ihre Kontrolle zu bringen. Laut Maxim Moisejew, Historiker am Archäologischen Museum Moskaus, hatten die Wjatitschen damals bereits eine vorstaatliche Gemeinschaft und eine recht hoch entwickelte Kultur. Sie betrieben Ackerbau, Viehzucht, Jagd und Fischerei. Zudem beherrschten die Wjatitschen Handwerke wie die Töpferei, Weberei und Metallverarbeitung.

Archäologische Funde zeugen von einem ausgeprägten Juwelierhandwerk. Pawel Jermolow berichtet von Amuletten, Ringen, Perlen, Armreifen und Wendelringen, die bei Ausgrabungen im Zarizyno-Schlosspark gefunden wurden. Charakteristisch für die Wjatitschen sind die siebenblättrigen Schläfenringe.

Juwelierarbeiten der Wjatitschen (Foto: Museum Moskaus)

Die Siedlungen der Wjatitschen waren in der Regel nicht befestigt, wie Maxim Moisejew sagt, wenngleich durchaus einige befestigte Siedlungen bekannt seien. Sie lebten in kleinen Blockhütten und siedelten meist in der Nähe von Flussläufen.

Der langsame Prozess der Christianisierung

So trugen die Frauen die siebenblättrigen Schläfenringe. (Bild: Museum Zarizyno)

Mit dem Einfluss der Kiewer Rus kam auch bald das Christentum. Man dürfe sich das jedoch nicht als eine schlagartige und gewaltsame Christianisierung vorstellen, so Pawel Jermolow. Der Prozess sei vielmehr langsam und allmählich verlaufen. Über Jahrhunderte habe es eine „ziemlich komplexe Koexistenz von Christentum und traditionellen heidnischen Ansichten und Bräuchen“ gegeben. Dennoch seien durchaus dramatische Ereignisse überliefert. Zum Beispiel wurde der Mönch Kukscha vom Kiewer Höhlenkloster Anfang des 12. Jahrhunderts bei seiner Missionstätigkeit von heidnischen Wjatitschen zu Tode gefoltert.

Auch Maxim Moisejew sagt, es habe zwar durchaus Widerstand gegeben, doch sei der nicht sehr ausgeprägt gewesen. Zudem habe er sich mehr gegen die Fremdherrschaft durch die Kiewer Rus als gegen die Religion gerichtet. Wie viele indigene Völker hätten die Wjatitschen schließlich den Weg gewählt, ihre heidnischen Bräuche im Rahmen des Christentums weiter zu pflegen. Im Lauf der Zeit verloren sie zudem immer mehr ihre kulturelle Eigenständigkeit. Ihre Länder gingen im 12. und 13. Jahrhundert in den Fürstentümern Tschernigow, Rostow-Susdal und Rjasan auf. Im 14. Jahrhundert tauchen sie nicht mehr als eigenständiger Stamm in Quellen auf, so Pawel Jermolow.

Heidnische und christliche Sitte haben parallel existiert

Das Nebeneinander von heidnischer und christlicher Tradition lässt sich besonders gut an den Bestattungssitten erkennen. Bei Ausgrabungen in Zarizyno wurden insbesondere nach der Jahrtausendwende zahlreiche Grabhügel der Wjatitschen untersucht. Die Funde sind inzwischen Teil der Dauerausstellung des Museums.

Laut Jermolow war es bei den heidnischen Wjatitschen Sitte, die Toten zu verbrennen. Die Knochen wurden dann in Behältern aufbewahrt und an Wegen zur Schau gestellt. In den Kurganen von Zarizyno dagegen bestattete man die Toten in Holzsärgen. In manchen Gräbern fand man kleine Kruzifixe, was auf eine christliche Bestattung hinweist. Dennoch finden sich in Männergräbern Werkzeuge wie Messer, Beile und Äxte, in Frauengräbern Sicheln und oft reichlich Schmuck. „Dies sind zweifellos Überbleibsel heidnischer Vorstellungen. Man glaubte, die Verstorbenen mit Dingen für das Leben nach dem Tod in einer anderen Welt versorgen zu müssen“, erklärt Jermolow.

Was ist in den Grabhügeln zu erwarten?

Ähnliche Grabbeigaben dürften auch in den jetzt gefundenen Kurganen in Neu-Moskau zu erwarten sein. Moisejew rechnet damit, dass dort ebenfalls Gebrauchsgegenstände wie Messer oder Geschirr sowie Schmuck, insbesondere die siebenblättrigen Schläfenringe, zu finden sein könnten. In der Regel sei eine Person in einem Grabhügel bestattet, Familiengräber seien selten. Die Toten befänden sich meist in Särgen aus ausgehöhlten Baumstämmen, seltener aus Brettern.

Werkzeuge und Schmuck werden in den Kurganen vermutet. (Foto: mos.ru)

Die Entdeckungen werden jedoch ihre Geheimnisse nicht so schnell preisgeben. Wie die Abteilung für Kulturerbe mitteilte, wird zunächst geprüft, ob die Hügel einen besonderen Schutzstatus erhalten. Bis dahin soll auch ihr genauer Standort geheim bleiben, um Raubgrabungen zu verhindern. Dies sei wiederholt geschehen, wie Pawel Jermolow mitteilt. In den 1930er, 1970er und 1980er Jahren seien Grabhügel in Zarizyno geplündert worden.

Wer sich auf die Spuren der Wjatitschen begeben möchte, hat in Moskau und der Region zahlreiche Gelegenheiten dazu. Neben dem Museum Zarizyno und dem Archäologischen Museum ist in Moskau das Staatliche Historische Museum eine lohnende Anlaufstelle. Funde aus Grabhügeln der Wjatitschen sind zudem im Museum für Architekturgeschichte und Kunst in Swenigorod sowie in den Heimatmuseen von Puschkino und Ljubertsy zu bestaunen.

Jiří Hönes

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