Schöne neue Welt

Ein auf Jahrzehnte angelegtes Städtebauprojekt im Südwesten der Hauptstadt sieht Wohnraum für über eine Million Menschen vor. Arbeitsplätze vor Ort sollen das Stadtzentrum entlasten. Wo steht das kühne Vorhaben acht Jahre nach dem Startschuss?

Leben in TiNAO
Über eine Million Menschen sollen in „TiNAO“ Platz finden. (Foto: Andrej Nikeritschew/ AGN Moskwa)

Der Fläche nach war es eine der größten Eingemeindungen, die Europa je gesehen hat. Am 1. Juli 2012 vergrößerte sich das Territorium der Stadt Moskau auf das 2,4-Fache. Knapp 1500 Quadratkilometer südwestlich des alten Stadtgebiets kamen hinzu. Im Vergleich dazu nahm sich die hinzugewonnene Bevölkerung mit 233.000 Menschen eher übersichtlich aus. Neben kleineren Städten wie Troizk und Schtscherbinka waren es vor allem Dörfer, Wälder und landwirtschaftliche Flächen, die Moskau einverleibt wurden.

Auf der Karte betrachtet wirkt es, als habe das alte Stadtgebiet dem Druck nicht mehr standgehalten. Explosionsartig scheint sich die Fläche nach Südwesten ausgebreitet zu haben. In der Tat bot der Raum innerhalb der Ringautobahn MKAD schon vor einem Jahrzehnt kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten. Das dünn besiedelte Umland zwischen der Kiewer und Warschauer Autobahn um so mehr. So entstand der ehrgeizige Plan, hier langfristig Wohnraum für über eine Million Menschen zu schaffen. Bis 2035 sollen 1,1 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.

Wohnen und Arbeiten vor Ort

„Neu-Moskau“ wurde das Vorhaben offiziell getauft. Aus den hinzugewonnenen zwei Städten und 19 Gemeinden entstanden zwei Verwaltungsbezirke, Nowomoskowskij und Troizkij. In Anlehnung an die Abkürzung beider Bezeichnungen bürgerte sich bald der Name „TiNAO“ ein.

Durch eine polyzentrische Struktur sollen die bislang stark auf das Stadtzentrum ausgerichteten Entwicklungsachsen aufgebrochen werden. Zwölf spezialisierte Wirtschaftscluster sollen entstehen, etwa für Logistik in der Nähe des Flughafens Wnukowo, für Bildung und Forschung in Troizk und für die Industrie in Mosrentgen. Einen Vorgeschmack gibt der Gewerbepark „Comcity“ in Rumjanzewo, in dem sich seit 2014 Unternehmen aus der Telekommunikations- und IT-Branche angesiedelt haben. Um die 11.000 Arbeitsplätze beherbergt der Komplex, samt Supermarkt, Restaurants, Fitnessclubs und gar einem eigenen Postamt.

Arbeiten in TiNAO: Gewerbepark „Comcity“
Arbeiten in TiNAO: Gewerbepark „Comcity“ (Foto: Alexander Awilow/ AGN Moskwa)

Um diese Cluster herum entstehen Wohngebiete. Für die Naherholung sollen insgesamt 90 Parks mit einer Gesamtfläche von 12.000 Hektar entstehen, teils mit thematischer Ausrichtung wie Sport, Geschichte, Archäologie oder Tierwelt.

„Nicht einfach eine neue Schlafstadt“

Dmitrij Medwedew, einstiger Premierminister und maßgeblicher Förderer des Vorhabens, stellte 2014 seine Visionen von der Zukunft Neu-Moskaus vor. Es solle nicht einfach eine neue Schlafstadt mit ein paar Einkaufszentren entstehen, so Medwedew damals, vielmehr solle TiNAO zu einem „intelligenten Raum“ werden. Zudem müsse gleich die gesamte nötige Infra­struktur errichtet werden, um den Bewohnern jegliche Unannehmlichkeiten zu ersparen.

Sechs Jahre sind seither vergangen. Mittlerweile nähert sich die Einwohnerzahl 400.000. Über 70 Schulen und Kindergärten sind entstanden, 200 Kilometer Straßen wurden gebaut und zwei Metrolinien haben TiNAO erreicht.

Parks und ein Museumskomplex sollen entstehen

Über 1,4 Billionen Rubel (etwa 17,6 Milliarden Euro) wurden investiert, so die Stadtverwaltung. Im Jahr 2019 wurde in Moskau so viel Wohnfläche gebaut wie seit 1965 nicht mehr, wie die Zeitung „Wedomosti“ im Januar meldete. Von den Parks sind mittlerweile auch schon 17 fertig. Der durchaus kritische Blogger Ilja Warlamow fand im vergangenen Winter lobende Worte für drei von ihnen.

Bis 2023 soll in Kommunarka ein Außenlager für zahlreiche Moskauer Museen entstehen, das auch Ausstellungsräume umfassen wird. Hier doll die Neue Tretjakow-Galerie für einige Jahre unterkommen, während das Gebäude in der Innenstadt umgebaut wird.

Vision und Wirklichkeit

Wie lebt es sich in TiNAO? Wera Petrowa hat sich vor fünf Jahren eine Wohnung in Kommunarka gekauft, in der sie gemeinsam mit ihrem Sohn lebt. Heimisch geworden ist sie bislang nicht. „Ich fahre morgens früh zur Arbeit und komme spät nach Hause, hier bin ich eigentlich nur zum Schlafen und zum Einkaufen“, sagte die Innenarchitektin. Für Neu-Moskau habe sie sich aus Kostengründen entschieden.

Mit der Situation im Viertel ist sie alles andere als zufrieden. „Zur Metro führt nur ein schmaler, unbeleuchteter Pfad, nachts ist das echt beängstigend“, sagt sie. Mit dem Auto stehe sie morgens oft eine halbe Stunde im Stau, bis sie überhaupt mal auf der Hauptstraße sei. Für sie steht fest, dass sie hier nicht ewig bleibt.

Die Infrastruktur hinkt dem Wohnungsbau hinterher

Artjom Neuer wohnt auf der anderen Seite der Metro in einem Viertel, das aus fünf Wohngebäuden besteht – mit jeweils 1750 Appartements. Er genießt die Nähe zum Wald, zudem gibt es zwei Seen in der Nachbarschaft.

Doch auch Artjom ist mit vielem nicht zufrieden. „Sie schaffen es offenbar nicht, eine funktionierende Kanalisation zu bauen“, wundert er sich. Nach jedem größeren Regen stehe das Wasser in den Straßen. „Und insgesamt wachsen die Siedlungen schneller als die Infra­struktur.“ Es gebe nur ein Bürgerbüro, das ständig überfüllt sei, die Kindergartengruppen seien viel zu groß. Besonders ärgerlich sei auch, dass immer wieder Bauschutt in den Wäldern entsorgt werde.

Wohngebäude in TiNAO
Wohngebäude stehen, auf die soziale Infrastruktur müssen die Bewohner vielerorts noch waren. (Foto: Andrej Nikeritschew/ AGN Moskwa)

Jewgen Laktjunkin ist vor einem Jahr nach Rasskasowka gezogen. Die Wahl fiel besonders wegen der Bebauung auf das Viertel. „Die typische Entwicklung ist doch, dass auf einem kleinen Stück Land jeder freie Millimeter bebaut wird, je höher, desto besser“, sagt er mit Verweis auf Kommunarka. In seiner Siedlung sind die Häuser nur neun Etagen hoch und unterscheiden sich auch gestalterisch von den Wohntürmen in anderen Vierteln.

Warten auf die Straßenbahn

Etwas seltsam ist für Jewgen, in einer komplett neuen Nachbarschaft zu leben, wie er sagt. Auch die Einkaufsmöglichkeiten entstünden erst nach und nach. Doch für die Zukunft sieht er durchaus Entwicklungsperspektiven.

Momentan, so Jewgen, sei Neu-Moskau noch eine Ansammlung von Inseln aus Wohngebieten, die ohne Auto nur schlecht miteinander verbunden sind. Da soll eigentlich eine Straßenbahn Abhilfe schaffen. Ganze 180 Kilometer soll das Netz umfassen, das die Stadtverwaltung angekündigt hat. Neun Linien sollen einst ganz TiNAO erschließen. Doch es steht noch nicht einmal der Termin für den Baubeginn. „Stattdessen bauen sie eine zweite Metrolinie nach Kommunarka“, ärgert sich Artjom. „Für das Geld könnte man doch das ganze Straßenbahnnetz haben.“

Gemessen an Medwedews Worten kam bislang doch vieles anders. Die versprochenen Infrastruktureinrichtungen lassen vielerorts auf sich warten, Wohnsilos sind derweil schon einmal da. Neu-Moskau ist noch im Werden. Endgültig beurteilen lässt sich das Projekt wohl erst in etwa 15 Jahren.

Jiří Hönes

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