
Viele finden, dass ein Hospiz eine traurige Einrichtung ist, wohin unheilbar Kranke zum Sterben kommen. Aber auf der Webseite der Stiftung steht geschrieben, dass es ein Platz sei, „wo jeder Tag wertvoll ist und man sich über ihn freut“.
Der Statistik zufolge sterben pro Jahr 15 Prozent unserer Patienten und 85 Prozent beginnen ein neues Lebensjahr. Einige leben nur ein paar Monate unter dem Dach des Hospizes, zum Beispiel krebskranke Kinder. Sie interessiert das soziale Leben nicht besonders. Sie haben große Schmerzen.
Aber es gibt auch Diagnosen, mit denen man noch lange leben kann, zwei, zehn oder sogar zwanzig Jahre. Einigen unserer Patienten haben die Ärzte erzählt, sie würden ihren dritten Geburtstag nicht feiern, aber nun sind sie achtzehn. Obwohl wir wissen, dass sie sterben werden und wir darauf gefasst sein müssen, soll man nicht einfach rumsitzen und auf den Tod warten, sondern sich bemühen, jeden Tag zu leben, damit das Leben gut, heiter und erfüllt ist. Wir hier im Hospiz arbeiten daran. Wir möchten, dass sie nicht in den Betten herumliegen, sondern sich voll verwirklichen, lernen, irgendwohin fahren. Wie alle gewöhnlichen Menschen.
Das heißt, nicht nur Schmerzlinderung und medizinische Betreuung, sondern auch soziales Leben.
Natürlich ist in erster Linie die medizinische Hilfe von Bedeutung, denn wenn der Mensch Schmerzen hat, kann er nicht atmen, oder wenn die nötigen medizinischen Geräte fehlen, klappt gar nichts. Zuerst wählen die Ärzte die benötigte Ausstattung und die Medikamente aus, dann bezahlen unsere Spender die Geräte. Der Apparat zur künstlichen Beatmung kann sowohl stationär, wo man sich nicht von der Steckdose entfernen darf, als auch mobil sein. Wir bemühen uns, unsere Patienten mit mobilen Beatmungsgeräten auszustatten, sodass sie damit herumfahren können. Wenn das alles geklärt ist, kommen die Betreuerinnen ins Spiel, die die Kinder überallhin begleiten. Des Weiteren wird die Frage der Transportmöglichkeiten geklärt, um in die Schule oder woanders hinfahren zu können. Wir streben danach, dass das Kind möglichst viele gute Tage erleben kann.

Jetzt legen viele Organisationen Rechenschaft über das vergangene Jahr ab. Wie schätzen Sie den Erfolg oder Misserfolg des Jahres ein? Haben Sie einen KPI?
So etwas haben wir nicht, wir schauen uns nur die gespendeten Gelder an, die wir einsammeln konnten. So viel Geld wir gesammelt haben, so viele Leistungen erhalten die Kinder. Haben wir Geld für drei Betreuerinnen gesammelt, so werden wir auch drei einstellen. Deshalb messen wir den Erfolg an den Geldern. Und wenn wir von Kontinuität sprechen, so müssen wir jedes Jahr mehr Geld sammeln, um die Inflation auszugleichen. Wenn jedoch von Weiterentwicklung die Rede ist, so muss noch mehr Geld zusammenkommen. Im Moment ist bei uns ein leichter Rückgang zu verzeichnen.
Ein leichter?
Wir hatten mit einem stärkeren Rückgang gerechnet, aber er war dann doch nicht so groß. 2022 haben wir 987 Millionen gesammelt und im Vorjahr 917. Etwas weniger.
Ist die Ausreise von Sponsoren und Volontären aus dem Land für Sie ein ernsthaftes Problem?
Es ist schwer geworden, Mitarbeiter zu finden. Früher wurden freie Stellen wesentlich schneller wieder besetzt. Jetzt müssen wir manchmal drei Monate lang den benötigten Spezialisten suchen. Auch der Weggang europäischer Firmen, für die soziale Verantwortung ein wichtiges Thema ist, schlug sich nieder. Ohne jemanden hervorheben zu wollen, es gab viele Unterstützer, sei als Beispiel IKEA genannt. Sie haben immer mit Kleidung und Wäsche das Hospiz unterstützt. Auch Geld hat das Unternehmen gegeben. Und sie stellten aus verschiedenen Stiftungen Menschen mit physischen oder psychischen Besonderheiten ein.
In russischen Unternehmen sieht es mit sozialer Verantwortung nicht so gut aus. Und jetzt wird das Geld von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung für die Kriegshandlungen und für Flüchtlinge verwendet. Und Privatunternehmen verfügen über weniger Geld, es ist schwieriger geworden zu arbeiten.
Ist die Versorgung mit Medikamenten schwieriger geworden?
Mal verschwinden die einen Präparate, mal die anderen, Verbrauchsmaterial, Ausrüstung. Das ist kein statischer Prozess. In diesem Monat suchen wir Masken für den nicht-invasiven Beatmungsapparat, im nächsten Monat taucht ein anderes Problem auf. Wir müssen die ganze Zeit analoge Produkte suchen.

In den letzten zwei Jahren nahm sich die Stiftung der Probleme der nach Moskau kommenden Flüchtlinge an. Kommen immer noch welche?
Dazu muss gesagt werden, dass das eine andere Organisation macht – die Stiftung für Flüchtlingshilfe „Haus mit dem Leuchtturm“. Die Gleichheit besteht nur in der Bezeichnung und dass ich die Gründerin bin. Alles andere ist anders, eine andere Organisation, ein anderes Budget. Für das Hospiz gespendete Gelder bekommen die Flüchtlinge nicht. Es gibt verschiedene Spender, die einen wollen den Kindern helfen, die anderen den Flüchtlingen.
Das erste Jahr war sehr schwer. Die Menschen kommen, wenn sich etwas an der Front ändert. Als Mariupol besetzt wurde, kamen viele Flüchtlinge von dort. Als sich die Frontlinie bei Cherson verschoben hatte, kamen viele Flüchtlinge von daher. Im ersten Jahr kamen hier einige Zehntausend Menschen ohne Medikamente, ohne Essen und Kleidung an. Das vergangene Jahr war ruhiger, was die Anzahl der Ankommenden betrifft, die Frontlinie hatte sich nicht bewegt. Diejenigen, die ohne irgendwelche Sachen aus Kellern kamen, gab es praktisch nicht. Es kamen mehr Menschen mit chronischen Krankheiten, die an ihrem Wohnort nicht behandelt werden konnten, weil dort die medizinische Versorgung ausschließlich auf das Militär ausgerichtet ist. Das sind Patienten mit Krebserkrankungen oder mit Amyotropher Lateralsklerose. Davon kommen weniger, aber die Behandlung ist schwieriger. 2023 kamen noch Flüchtlinge aus Karabach hinzu, aber nicht so viele. Einige Hundert.
Man wirft Ihnen vor, dass Sie mit der Flüchtlingshilfe für den Staat einspringen. Arbeiten Sie für ihn?
Ja, damit helfen wir tatsächlich dem Staat, sein Image zu verbessern. Aber mir sind konkrete Menschen wichtiger als das Bild des Staates. Es gibt eine Idee, dass, wenn man die Menschen zum Äußersten zwingt, sie hingehen werden und sich mit dem Staat anlegen und sie werden die Staatsmacht stürzen. Ich bin jedoch nicht bereit, die Leute zum Äußersten zu zwingen. Das ist in Bezug auf die Menschen inhuman.
Sollten Wohltätigkeitsorganisationen nicht vom Staat verlangen, dass er sich den Hilfsbedürftigen widmet?
Es gibt verschiedene Situationen. Ich bin generell der Meinung, dass Wohltätigkeit als solche nichts Gutes ist. Die Menschen sollten gesetzlich verbriefte Rechte haben, sie sollten Medikamente, nicht weil jemand dafür Geld gespendet hat, erhalten, sondern weil sie ihnen zustehen und das vom Staat gewährleistet wird. Aber in Russland ist es nicht möglich, die Wahrung der Rechte von jemandem durchzusetzen, deshalb leisten wir konkrete Hilfe. Das ist zwar ein bisschen altmodisch, wenn man die Arbeit der nicht kommerziellen Organisationen betrachtet, aber es ist das Einzige, was man jetzt und hier tun kann.
Arbeiten Sie in irgendeiner Weise mit dem Staat zusammen?
Ja. Man kann ohne Zusammenarbeit keine so große Initiative mit einem hohen Budget leisten. Vor fünf, sechs Jahren waren wir noch völlig unabhängig. Aber das Geld reichte nicht mehr und wir standen vor der Wahl, entweder mit dem Staat zusammenzuarbeiten oder einem Teil der Patienten die Hilfe zu verweigern. Jetzt gibt uns der Staat Zuschüsse und Subventionen. Bis zu 20 Prozent unseres Budgets werden vom Staat finanziert, er stellt uns Räume für die stationäre Behandlung und Lagerräume zur Verfügung.
Sie leisten eine sehr schwierige psychologische Arbeit, auch ohne die neuesten Nachrichten zu lesen. Wie kommen Sie und Ihre Kollegen damit zurecht?
Man kann einfach dasitzen und sich mit Schuldgefühlen wegen der Geschehnisse quälen oder Angst vor Verfolgung haben. Aber wenn du etwas hast, was dich von früh bis spät auf den Beinen hält und all deine Gedanken beansprucht, dann schützt dich das.
Das Gespräch führte Igor Beresin.