
Eine seltsame Vertrautheit macht sich breit. Am Busfenster des Flughafenshuttles ziehen graue sozialistische Bauten und weiträumige Passagen von Neu-Belgrad vorbei. Ein Stadtteil, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Stile des Brutalismus errichtet wurde. Riesige Malls ragen dort hervor, die mit internationalen Firmenlogos werben, bevor es über den Fluss Save in die Innenstadt von Belgrad geht. Rechts am Wasser entsteht der exklusive Stadtteil Waterfront – ein Investitionsprojekt der Emirate. Links erkennt man von Weitem das alte Belgrad mit der ehemaligen Festung Kalemagdan. Alte Wahlplakate in kyrillischer Schrift zeigen den im April wiedergewählten Staatschef Aleksandar Vučić.
Der Kulturschock bleibt aus. Dem Pärchen aus Moskau, das mit vielen Koffern die Emigration nach Serbien wagt, ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Ihr Blick bleibt an Reklametafeln hängen. „Belgrad ist eine junge, dynamische Stadt”, berichtet ihnen Freundin Anja. Die Russin wohnt mit ihrem Freund bereits seit einigen Jahren in der serbischen Hauptstadt und hilft Neuankömmlingen hier anzukommen.
Die Mentalität ist ähnlich
Seit dem 24. Februar ist die Donaustadt neben Istanbul, Tiflis und Jerewan ein neues Auswanderungsziel für Russen: Zu Tausenden sollen sie sich hier aufhalten – eine genau Zahl ist nicht bekannt, aber die laut Medienberichten stark angezogenen Mietpreise sprechen für einen neuen Hotspot. Das hat einen einfachen Grund: Als Bruderstaat ermöglicht Serbien, das nicht Teil der EU ist, russischen Staatsbürgern eine einfache Einreise – samt Direktflügen aus Moskau. Mit dem Reisepass kann man sich bis zu 30 Tage frei im Land aufhalten. Nach Ablauf der Frist genügt es, ins benachbarte, ebenfalls visumfreie Montenegro zu fahren und wieder zurück. Dann ist der Aufenthalt erneuert.
Die Kultur und Mentalität sind ähnlich, sagt Anja. „Nur die Käsesoße beim McDonalds gibt es hier nicht“, scherzt sie, um die gedrückte Stimmung im Bus aufzuhellen. Ein junger Mann im Busshuttle pflichtet Anja bei. „Auch in Istanbul haben sie mich mit großen Augen angesehen, als ich versucht habe, zu den Chicken Nuggets eine Käsesoße zu bestellen. Ist wohl eine russische Eigenheit.“ In der türkischen Millionenstadt am Bosporus konnte sich der IT’ler nicht einleben. Nun versucht er sein Glück in Serbien.
Endstation: Slavija. Der Platz gehört zu den zentralen Plätzen in Belgrad – hier befindet sich auch der älteste McDonalds Osteuropas, der im blockfreien Staat bereits 1988 seine Tore geöffnet hat. Auf einer Hausfassade prangt ein riesiges Werbeplakat mit einer klaren Botschaft: Zajedno. Gemeinsam. Dabei fließt die russische Flagge nahtlos in die serbische. Gesponsert von Gazprom.
Russlands Spuren finden sich auch an den Souvenirständen: Händler feilschen mit T-Shirts, Flaggen und Tassen, die das Z-Symbol oder Wladimir Putins Konterfei tragen. Zahlreiche pro-russische Graffitis zieren die Stadt – sie wirken wie ein Straßenkampf um die öffentliche Meinung. Und sie fällt eindeutig aus: Viele Serben zeigen für die „Spezialoperation“ in der Ukraine Verständnis, weil sie in ihr einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO sehen. Gegen das westliche Militärbündnis wird Groll gehegt: Die dreimonatige Bombardierung Serbiens ohne UN-Mandat im Frühjahr 1999, als die NATO so den Rückzug serbischer Truppen aus dem Kosovo erzwang, haben die Menschen nicht vergessen. Zwar wurde auf höchster Ebene das militärische Vorgehen in der Ukraine verurteilt. Aber Staatschef Vučić will mit dem russischen Präsidenten nicht brechen – und hält Putin die Treue. Sanktionen gegen Russland trägt Serbien nicht mit.

Neue Chancen
Die russophile Politik erleichtert einerseits den russischen Emigranten das Ankommen, da sie sich nicht rechtfertigen müssen. Andererseits haben viele Russen das Land gerade aus politischen Gründen verlassen. Ausgerechnet sie werden in Belgrad vom „Z“ eingeholt. Andere emigrieren, weil sie keine wirtschaftliche Perspektive in Russland sehen – und als Fachkraft im Ausland ihre Chance wittern. Manchmal ist Belgrad auch nur ein Zwischenstopp auf dem Sprung in die Europäische Union oder in die USA.
Yulia Graut – lockige braune, kurze Haare – befindet sich irgendwo dazwischen. Die Schauspielerin aus Moskau hatte bereits vor einem Jahr begonnen, ihre Karriere international auszubauen, als die Ereignisse, die auf den 24. Februar folgten, ihre Entscheidung zu gehen beschleunigt hatten. „Wenn Grenzen schließen, der Luftverkehr eingestellt und Sanktionen verhängt werden, weißt du nicht, was morgen passiert“, erinnert sie sich. Nun lebt die 32-Jährige seit zwei Monaten in Belgrad. Den ersten Schritt wagten ihre Freunde aus dem Vertonungs-Studio „Grip Soundlab“, das sie mitbegründet hat, und überzeugten sie nachzuziehen. „Zum einen ist es die Sprache, die dem Russischen näher ist“, sagt Graut. Auch wenn sie nach eigenen Worten sehr gut Englisch spricht, lernt sie in Eigenregie Serbisch, versucht im Alltag Neugelerntes anzuwenden. „Wenn ich einmal ein Wort nicht weiß, reagieren die Einheimischen freundlich, weil sie sehen, dass man sich Mühe gibt.“ Das Land sei zudem irgendwie wesensverwandt. Kurzum: Hier lebe es sich angenehm.
So wie Graut emigrierten vor rund hundert Jahren Tausende russische Künstler, Ingenieure, Architekten, Ärzte und Schauspieler in den Wirren des Russischen Bürgerkriegs nach Belgrad. Zwischen 1922 und 1923 zählte die Hauptstadt des damaligen Königreichs Jugoslawien allein 40 000 Neuankömmlinge, die an der Modernisierung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg entscheidend mitgewirkt hatten. Im Stadtbild ist diese Emigrationswelle bis heute noch sichtbar: angefangen beim Hotel „Moskva“ im Art-Nouveau-Stil an der Straße Terazije, die in die Prachtstraße Kneza Mihaila übergeht und wo sich das Restaurant „Russkij Tsar“ befindet, ein Treffpunkt der damaligen Elite, über prunkvolle klassizistische Gebäude wie das Finanzministerium, das von einem russischen Architekten errichtet wurde, bis zum Denkmal zu Ehren von Zar Alexander II.
Auch Graut will aktiv sein und nicht das Leben eines klassischen Emigranten zwischen zwei Stühlen führen. „Das nicht Hier und nicht Dort tut der Psyche weh, zudem entwickelst du dich so nicht weiter“, sagt die Schauspielerin. Neugierde sei aktuell ihre Quelle der Kraft in dieser schweren Zeit. „Denn wenn alles neu ist, hast du keine andere Wahl als zu strampeln, sonst ertrinkst du“, sagt Graut. Also geht sie aktuell auf Theater-Castings, bemüht sich mit ihren Freunden um einen serbischen Aufenthaltstitel, um hier legal arbeiten zu können und versucht, Kontakte zu knüpfen. „Jeder Mensch, der an einen anderen Ort kommt, verändert sich. Ich weiß noch nicht, wer ich hier sein werde. Aber ich bin mir sicher, dass sich hier Chancen ergeben.“
Katharina Lindt