Touristen im wehrpflichtigen Alter

Für manche Russen ist es jetzt einfacher, eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zu bekommen, als Verwandte in dem Land zu besuchen. Das deutsche Konsulat stellt den Bürgern Russlands nur ungern kurze Visa aus.

Scheremetjewo
Eine Europareise ist für viele Russen ein Ding der Unmöglichkeit. (Foto: AGN Moskwa)

Die Geschichte mit der Vergabe von Touristenvisa an Russen in Schengen-Staaten kam unerwartet wieder auf die Tagesordnung. Es schien so, als ob die Reisenden die neue Realität schon begriffen haben. Im August vergangenen Jahres schlug Deutschland vor, die Visaerleichterungen für Bürger Russlands auszusetzen, und seit September braucht man auf Multivisa im deutschen Konsulat nicht mehr zu hoffen. Lest die Regeln auf der Webseite des Visazentrums aufmerksam!

Eine Nachricht des investigativen Journalisten Andrej Sacharow auf Twitter, der von der russischen Seite als ausländischer Agent eingestuft wurde, setzte eine neue Welle der Diskussionen in Gang. Der Journalist schrieb über die Ablehnung des Visaantrages eines Russen durch das deutsche Konsulat. Zu dem Betroffenen gesellten sich sofort einige Leidensgenossen.

Leipzig per Zoom

Dieses Problem kennt die MDZ nicht nur vom Hörensagen. Der Autor dieses Artikels, der Chefredakteur der MDZ, wollte zur Buchmesse nach Leipzig fahren und an den Diskussionen im Rahmen der „Moskauer Gespräche“, einem Projekt der Zeitung, teilnehmen. Ein direkter Dialog mit den Lesern ist immer interessant. Der Dialog musste jedoch aus der Ferne geführt werden, und zwar wegen der Ablehnung des Visaantrages.

Was ist denn hieran so schlimm? Deutschland ist nicht verpflichtet, allen Visa auszugeben. Und überhaupt, an solche Kleinigkeiten zu erinnern, wenn täglich bei Bachmut und anderswo hunderte Menschen sterben, ist einfach nicht schön.

Mit 52 noch im wehrpflichtigen Alter

Aber das ist keine Beschwerde, nicht über einen konkreten Fall oder andere. Das ist eher Unverständnis. Zur Bestätigung, dass der Autor bereit ist, nach zwölf Tagen, die im Visaantrag angegeben waren, nach Russland zurückzukehren, brachte er einen ganzen Berg Dokumente bei. Darunter waren: eine Gehaltsbescheinigung der Arbeitsstelle, die Eheurkunde, die Geburtsurkunde des Kindes, das in Moskau verblieb, ein Eigentumsnachweis über eine Immobilie und schon gekaufte Flugtickets.

Die Formulierung der Absage war standardmäßig: „Der Zweifel an Ihrer Rückkehrbereitschaft in Ihr Heimatland ergeben sich daraus, dass Sie als russischer Staatsangehöriger im wehrpflichtigen Alter zu dem Personenkreis gehören, der in Russland potenziell von der Teilmobilisierung für die russischen Streitkräfte betroffen ist. Dadurch dürfte Ihre Bereitschaft, vor Ablauf des Visums in Ihr Heimatland zurückzukehren, erheblich vermindert sein.“

Anziehungskraft eines VW

Natürlich ist die Mobilmachung ein ernster Grund, aber wenn das ausschlaggebend ist, warum verlangt man dann die Geburtsurkunde des Kindes? Vielleicht gehen die Prüfer davon aus, dass der väterliche Instinkt des Antragstellers viel kleiner ist als die Angst vor dem Wehramt? Sicherlich ist vieles im Leben möglich. Aber wozu brauchen sie ein Dokument über den Besitz eines Autos? Ein Auto, welches auch immer es sei, kann einen nicht im Land halten, wenn die Aussicht besteht, an vorderster Front zu landen.

Offizielle Stellen in Deutschland bestehen darauf, dass sich hinter einer Standardformulierung verschiedene Gründe verbergen können. Der Fakt der Zugehörigkeit zur „Gruppe von Personen, die von der Teilmobilmachung betroffen sein können“ an sich sei kein hinreichender Grund für eine Ablehnung eines Schengen-Visums, erklärte die Pressesprecherin des deutschen Außenministeriums Andrea Sasse auf einer Regierungspressekonferenz am 14. April.

Jeder Antrag wird einzeln geprüft

Frau Sasse kommentierte genau die Ablehnung des Visaantrages, die von dem russischen Journalisten auf Twitter beschrieben wurde. Nach ihren Worten wird jeder Antrag einzeln geprüft, in jedem Fall wird die Bereitschaft des Antragstellers zur Rückkehr sorgfältig unter die Lupe genommen. So erhielten nach Angaben der Pressesprecherin seit Beginn 2023 ungefähr 5500 russische Bürger in den diplomatischen Vertretungen Deutschlands Schengen-Visa. Und das ist gut so, weil es auch hätte schlechter kommen können. Deutschland tut sich schwer, aber es gibt Visa aus, während eine Reihe von Schengen-Staaten das schon lange nicht mehr tut.

Außerdem gibt Deutschland Langzeitvisa an Russen aus, Arbeits- und humanitäre Visa. Letztere sind für diejenigen gedacht, die in Russland aus politischen Gründen verfolgt werden können. Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gab es im ersten Quartal des laufenden Jahres 2381 Asylanträge von Russen.

Sie flanieren in Berlin und Paris

Eine solche Vorgehensweise gefällt bei Weitem nicht jedem. So tritt der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter ständig für Visa- und Asylverbot für Bürger Russlands ein. Er ist der Meinung, dass man „die jungen Leute aufrufen sollte, sich zum zivilen Widerstand zu vereinigen und nicht seine Landsleute einfach dem Schicksal überlassen sollte. Was ist denn das für eine Haltung, wenn du dich selbst vor der Einberufung zur Armee und gleichzeitig vor der Möglichkeit, Widerstand in Russland zu organisieren, drückst und einfach bequem in den Westen auswanderst?“, so der Politiker im Gespräch mit der „Deutschen Welle“. Noch viel mehr jedoch wie die Männer im wehrpflichtigen Alter regt den Abgeordneten auf, wie „die Frauen russischer Oligarchen durch die Geschäfte in Berlin und Paris flanieren und das Geld ausgeben, was sie der armen russischen Bevölkerung gestohlen haben.“

Lieber zu den Franzosen

Aber es gibt in Deutschland auch Befürworter eines liberaleren Herangehens an die Vergabe von Visa an Russen, die keinen Langzeitaufenthalt vorsehen. Insbesondere nach der Ausweisung der deutschen Diplomaten aus Russland ist es unmöglich vorherzusagen, welche Position die Oberhand gewinnen wird. Letztendlich muss Deutschland sich an die Direktiven der EU halten und sie, so Andrea Sasse, kontinuierlich ausführen. Aber Deutschland ist nicht allein. Bis zur Lösung der problematischen Situation, solange diese Möglichkeit im Prinzip noch existiert, sollten die Russen ihr Glück in anderen Konsulaten versuchen. Als der Autor dieses Artikels die Ablehnung eines Kurzzeitvisums erhielt, bekam sein Freund ein Fünfjahresvisum im französischen Konsulat.

Igor Beresin

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