Ich bin in Karelien geboren und aufgewachsen. Mein Vater war der einzige Deutsche weit und breit, meine Mama stammt aus einer finnisch-russischen Familie. Untereinander sprachen wir Russisch. Die deutsche Sprache existierte für mich lediglich in der Schule und bei unseren Besuchen in Kasachstan, bei der Familie meines Vaters. Einmal so gut Deutsch zu sprechen wie meine Lehrerin oder meine Oma, war in meiner kindlichen Vorstellung etwas Unerreichbares.
Erst Schwäbisch, dann Hochdeutsch
Nach unserer Umsiedlung nach Deutschland im Jahr 1997 erlebte ich sprachlich zunächst einen Schock: Alles, was ich in Russland im Deutschunterricht gelernt hatte, schien nicht besonders hilfreich zu sein. Dass ich bereits gut lesen und schreiben konnte, war natürlich ein großer Vorteil. Das Sprechen erwies sich aber als Herausforderung. Das Verstehen übrigens auch: Wir sind nämlich in Baden-Württemberg gelandet. Und verstehe mal einer die Schwaben! Im Scherz sage ich immer, dass ich eigentlich zuerst Schwäbisch und erst dann Hochdeutsch gelernt habe.
Für manche Leute klingt Deutsch etwas „hart“. Früher dachte ich genauso – heute muss ich darüber schmunzeln. Vielleicht liegt das daran, dass Deutsch mittlerweile zu meiner zweiten Muttersprache geworden ist. Zu dieser grenzenlosen Liebe haben insbesondere deutsche Gedichte, Märchen und Lieder beigetragen. Vor einigen Jahren lernte ich die Sängerin Helena Goldt kennen und erst durch sie wurde mir richtig bewusst, wie melodisch und weich unsere deutsche Sprache doch klingen kann!
Mittlerweile kenne ich viele russlanddeutsche Musiker, die mich mit ihren selbstgeschrieben Songs in deutscher Sprache und/oder ihren Interpretationen von deutschen Liedern begeistern. Dazu gehören unter anderem die legendären Jakob Fischer und Tina Wedel oder etwas jüngere Interpreten wie Oleg von Riesen und Alexander Schönfeld, die auch mit Gedichten russlanddeutscher Autoren arbeiten. Daher ist für mich die deutsche Sprache – im wahrsten Sinne des Wortes – wie Musik in meinen Ohren. Ich kann jedem, der Deutsch lernt, nur wärmstens empfehlen, diese Sprache durch Lieder, Gedichte und Märchen kennenzulernen. Das ist eine ganz andere Erfahrung.
Aus „Die Stille bei Neu-Landau“ vorgelesen
Die Aktion „Tolles Diktat“ kenne ich bereits seit Jahren. Ich habe sie immer mit Interesse verfolgt, mich aber wirklich intensiv erst damit auseinanderzusetzen begonnen, als mir meine Freundin und Kollegin Bibigul Nugumanova von ihrer Teilnahme daran berichtete. Seit fünf Jahren organisiert sie das „Tolle Diktat“ mit ihrem interkulturellen Freundeskreis „Deutsch verbindet“ in ihrem Heimatland Kasachstan. Bibigul hat so davon geschwärmt, dass ich nicht anders konnte, als ihre Begeisterung zu teilen.
Wie groß war meine Überraschung, als ich gefragt worden bin, ob ich für die Aktion in diesem Jahr nicht einen Auszug aus meinem Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ vorlesen möchte. Das war für mich nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Ehre: Die Vorstellung, dass Menschen in Russland nach meinem Text ein Diktat in deutscher Sprache schreiben und ich dadurch etwas zur Lernförderung beitragen kann, macht mich sehr glücklich. Vielleicht konnte mein Text jemanden dazu motivieren, sich noch intensiver dem Erlernen der deutschen Sprache zu widmen.
Das „Tolle Diktat 2022“ konnte an mehr als 1600 Orten in Russland und elf weiteren Ländern sowie online geschrieben werden. Mehr als 70.000 Menschen nahmen daran teil.
Ich würde mir wünschen, dass sich in Russland, in Kasachstan und in weiteren Ländern noch mehr Menschen für die deutsche Sprache begeistern lassen. Daher sind Aktionen wie das „Tolle Diktat“ für die Zukunft der deutschen Sprache im Ausland von großer Bedeutung. Dass dabei unter anderem auch russlanddeutsche Literaturschaffende und ihre Werke miteinbezogen werden, empfinde ich als ein großes Geschenk.
Katharina Martin-Virolainen