Ein russisches Dorf mit Holzhäusern, Pumpbrunnen und nicht asphaltierten Straßen, hinter dem die Wolkenkratzer von Moskau-City in die Höhe ragen – Fotos von diesem surrealen Aufeinanderprallen gegensätzlicher Welten gingen vor einigen Jahren in sozialen Netzwerken viral. Terechowo hieß das Dorf, das nur fünf Kilometer von Moskaus mondänem Businesszentrum entfernt lag, und sich jahrzehntelang jeglicher Modernisierung widersetzte. Als sei es vergessen worden von der Welt drum herum, in der ein Dorf nach dem anderen Platz machen musste. Erst für die Chruschtschowkas, die fünfgeschossigen Plattenbauten der 1960er, dann für Wohnblocks mit neun, zwölf oder mehr Geschossen.
Die abgeschiedene Lage inmitten einer Schleife der Moskwa hat das Dorf immer wieder vor dem Untergang gerettet. Mnjowniki-Auen wird die Gegend genannt, ein riesiger grüner Fleck auf der Landkarte Moskaus, umgeben von längst bebautem Gebiet. Durch den Bau eines Kanals ist das Gebiet zur künstlichen Insel geworden.
Doch jetzt ist auch von Terechowo nichts mehr übrig als sein Name. Anfang vergangenen Jahres wurden die letzten Häuser abgerissen, die Bewohner umgesiedelt. Die Stadt stellte ihnen Wohnungen zur Verfügung, in Wohnblocks in Mitino oder Nekrasowka. Für die Grundstücke dagegen wurden viele nicht entschädigt. Unschöne Szenen hatte es dabei gegeben. Nachdem die Räumung der Häuser angeordnet wurde, war jahrelang nichts passiert.
Bagger in Polizeibegleitung
Einige Bewohner wollten ihre Heimat nicht verlassen und blieben einfach. Zum Teil bis die Bagger in Begleitung der Polizei vor der Tür standen. Eine Rentnerin wurde von Beamten aus ihrem Haus getragen, das dann vor ihren Augen niedergerissen wurde. Sie bekam offenbar nicht einmal mehr die Zeit, ihre Katze rauszuholen, wie die „Rossijskaja Gaseta“ damals berichtete.
Die Aktion ist auf Video festgehalten und noch immer im Netz zu sehen. Die Katze hat immerhin überlebt, doch das Dorf ist seither endgültig Geschichte. In Sachen Stadtplanung war man in Moskau noch nie zimperlich. Seit Sowjetzeiten ist es gängige Praxis, Dörfer einzuebnen und auf der gewonnenen Fläche komplett neu zu planen. Umsiedlungen haben in Russland ebenfalls eine lange Tradition. Schon während der Agrarreform unter Premierminister Pjotr Stolypin Anfang des 20. Jahrhunderts wurden ganze Dörfer von der Ukraine nach Sibirien verpflanzt. Die Kommunisten schoben wiederum Völker auf der Landkarte umher wie Spielfiguren. Dagegen wirkt das gegenwärtige Renovierungsprogramm der Moskauer Regierung direkt bescheiden.
Es gab schon viele Pläne für die Insel
Für Terechowo und die Mnjowniki-Auen hatte es in der Vergangenheit schon so manche Planung gegeben. Nikita Chruschtschow wollte hier einen Vergnügungspark errichten. Die Idee griff Bürgermeister Jurij Luschkow in den 1990er Jahren wieder auf, in Form eines „Kinderwunderlands“. Der Bildhauer Surab Zereteli, Freund von Jurij Luschkow, stand einer Stiftung vor, die das Projekt umsetzen sollte. Doch Investoren blieben aus, auf dem Gelände entstanden stattdessen Autowerkstätten, ein Nachtclub und einige Mülldeponien. Ebenfalls für den Papierkorb waren schließlich die 2014 aufgekommenen Pläne, die Staatsduma und den Föderationsrat hierher zu verlegen.
Doch jetzt wird es ernst. Daran ändert auch nichts, dass die Auen 1998 zum Naturschutzgebiet erklärt wurden, weil sich dort viele Pflanzen- und Tierarten aus dem Roten Buch der Stadt Moskau fanden. Die aktuellen Pläne für das rund 350 Hektar große Gebiet sind allerdings deutlich pragmatischer und profaner als die vorigen.
Wohnungsbau statt Vergnügungspark
Es wird hauptsächlich Wohnbebauung entstehen. Im August stellte die Stadtverwaltung die Pläne für den Wohnkomplex „Ostrow“ vor, der im Bereich der Uliza Nischnije Mnjowniki hochgezogen werden soll. Die Gesellschaft UNK project wird dort neun- bis 21-geschossige Wohntürme mit Geschäftsräumen in den Erdgeschossen errichten. Doch auch im Rahmen des Moskauer Renovierungsprogramms werden Häuser entstehen. Die ersten sollen laut Baubürgermeister Andrej Botschkarjow schon 2023 fertiggestellt sein.
Ein Teil des Gebiets soll immerhin zum Park werden, wenngleich von der natürlichen Auenlandschaft hier nichts übrigbleiben wird. Laut Andrej Botschkarjow wird es eine „neue Naturlandschaft“ mit Wander- und Radwegen, Sportflächen und Uferpromenaden geben. Außerdem entstehen ein Sportzentrum mit Eisstadion, eine Schule, zwei Kindergärten, eine Musikakademie sowie in der Nähe der Metrostation Mnjowniki das größte Indoor-Surfzentrum der Welt.
Jetzt ist Troize-Lykowo das letzte Dorf im alten Moskau
Bis 2030 soll das Gebiet völlig entwickelt sein, so die Stadtverwaltung. In diesem Jahr ist die Metro schon unter den Mnjowniki-Auen angekommen. Die Station Mnjowniki der Großen Ringlinie ging im April in Betrieb, eine weitere namens Terechowo soll noch dieses Jahr folgen.
Jüngst wurden Pläne für zwei Fußgängerbrücken präsentiert, die die Mnjowniki-Auen mit dem Park Fili und mit Krylatskoje verbinden sollen. Ein Animationsfilm zeigt die zukünftige Stadtlandschaft aus der Vogelperspektive, clean und aufgeräumt. Für Holzhäuser aus dem 19. Jahrhundert ist da kein Platz. Einige Aktivisten hatten die Idee, das Dorf Terechowo als „Ethno-Park“ zu erhalten. Die Stadtverwaltung hatte kein Ohr dafür.
Jetzt erinnert nur noch der Name der Metrostation an Terechowo. Ein einziges richtiges Dorf gibt es von nun an noch innerhalb der Ringautobahn MKAD, das ein paar Kilometer flussaufwärts gelegene, idyllische Troize-Lykowo. Momentan scheint es sicher, doch auch dort ist eine Metrostation geplant.
Jiří Hönes
Das Dorf Terechowo
Terechowo wurde erstmals um 1644 in Quellen erwähnt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Dorf 156 Einwohner. Bei Napoleons Russlandfeldzug im Jahr 1812 wurde Terechowo von französischen Soldaten geplündert, das gesamte Vieh sowie Brot, Stroh, Heu und vier Bienenstöcke nahmen sie mit. Eine eigene Kirche hatte das Dorf nie, die Bewohner gingen sonntags ins benachbarte Krylatskoje. Bis zuletzt hatte Terechowo keinen Anschluss an die Kanalisation, Frischwasser gab es aus Pumpbrunnen. Anfang 2020 rückten die Bagger an. „Der Angriff des Bürgermeisters Sobjanin auf das Dorf war der erfolgreichste seit Napoleons Zeiten“, schrieb das Magazin „The Village“ zynisch. (Foto: AGN Moskwa)