Lieb und rätselhaft: Eine Spätaussiederlin über ihre deutschen Mitbürger

Aus dem großen Russland ins kleine Deutschland, aus der Großstadt Ischewsk in die Kleinstadt Delitzsch: Die Russlanddeutsche Maja Unruh (43) lebt mit ihren beiden Töchtern seit vorigem Herbst in Sachsen. Allmählich sind sie auch emotional angekommen. Mit der MDZ hat Unruh darüber gesprochen, ...

Angekommen: Spätaussiedlerin Maja Unruh in Delitzsch bei Leipzig, wo sie seit dem Frühjahr lebt (Foto: Tino Künzel)

… wie der Entschluss reifte, nach Deutschland überzusiedeln.

Ich habe schon als Kind davon geträumt, nach Deutschland zu gehen und dort richtig gut Deutsch zu lernen. Ich liebe die deutsche Sprache. In Ischewsk, meiner russischen Heimatstadt, habe ich mich in unserem deutschen Zentrum darum gekümmert, dass Kinder und Erwachsene in Kursen Deutschkenntnisse erlangen können. Seit 2015 und bis heute bin ich Vorsitzende der National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen in Udmurtien.

… warum das Vorhaben so lange warten musste.

Schon als Jura-Studentin habe ich mit dem Gedanken gespielt, auch an einer deutschen Hochschule zu studieren. Aber dann sind meine beiden Töchter zur Welt gekommen. Und meine Deutschland-Pläne haben sich um 20 Jahre verschoben. Erst 2019 hat mich der Gedanke wie ein Schlag getroffen, dass ich anderen bei der Übersiedlung helfe, aber was war eigentlich mit mir selbst?

… was ihre ältere Tochter zu der Idee gesagt hat.

Meine Töchter sind heute 21 und 18 Jahre alt und beide künstlerisch veranlagt. Die ältere spielt Geige. In Russland waren die Perspektiven so, dass sie zum Zeitpunkt unserer Ausreise im Oktober 2023 bereits am renommierten St. Petersburger Konservatorium studierte und sich Hoffnungen machen durfte, einmal ins Orchester des berühmten Mariinski-Theaters aufgenommen zu werden. Doch als die Frage anstand, ob wir uns um die Anerkennung als Spätaussiedler bemühen und diesen langwierigen Prozess in die Wege leiten wollen, da hat sie gesagt: Ja, Mama, lass es uns versuchen. Im Juni 2020 haben wir die Unterlagen eingereicht, genau drei Jahre später den positiven Bescheid bekommen.

… was sie in Russland zurückgelassen hat.

Ich bin in meiner Arbeit dort voll aufgegangen. Das war meine Welt. Außer Sprachkursen haben wir alle möglichen Veranstaltungen organisiert. Bitte schreiben Sie, dass ich der russlanddeutschen Bewegung sehr, sehr dankbar bin. Angefangen von der Jugendorganisation Jugendheim in Udmurtien, die ich vier Jahre leiten durfte. Das war in meiner Studien­zeit. Jura lag mir überhaupt nicht und war eine einzige Quälerei. Nach der Uni habe ich mich mit großer Lust in meine Projekte gestürzt. Da herrschte eine ungeheure Energie. Mein Jura-Dip­lom liegt nur herum und ist zu nichts nutze. Aber die gesellschaftliche Arbeit in Ischewsk mit Unterstützung des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur in Moskau hat mir fürs Leben viel gegeben.

… warum sie ausgerechnet nach Sachsen wollte.

Im Grenzdurchgangslager Friedland wird man gefragt, in welches Bundesland man möchte. Die allermeisten wollen in den Westen. Aber ich habe aufgeschrieben: Sachsen, Potsdam, Erfurt. Warum der Osten? Das war ein Bauchgefühl. So sagt man das doch? Aus dem, was ich vorher gelesen hatte, habe ich den Eindruck gewonnen, dass es hier vielleicht herzlicher zugeht. Das Menschliche steht bei mir an erster Stelle, nicht das Materielle. Aber es gibt auch einen ganz praktischen Grund: Wer in den Westen will, muss oft lange warten, bis ein Platz frei wird, und oft Monate im Ausländerwohnheim zubringen. Das war mir ein Graus. In Sachsen sind die Chancen, dass es schnell geht, viel größer.

… was ihr erster Wohnort in Deutschland war.

Crimmitschau! Davon hatte ich zwar noch nie gehört, aber die sächsische Kleinstadt war die Adresse, zu der wir aus Friedland geschickt wurden. Kein Ausländerwohnheim, sondern eine Sozial­wohnung: zwei Zimmer mit allem Drum und Dran, von der Bettwäsche bis zum Besteck, vom Bad bis zur Toilette. Was will man mehr? Als Ausgangspunkt für alles Weitere einfach ideal. Dort sind wir fünf Monate geblieben. Die Berater haben geholfen, alle möglichen Anträge auszufüllen.

Ziemlich unerwartet kam, dass man mir im Jobcenter gesagt hat, ich solle keine weiteren Deutschkurse besuchen, sondern mir eine Arbeit suchen. Mein Deutsch sei dafür gut genug. Da habe ich verstanden, dass die Zeiten, wie sie meine früher als ich ausgereisten Bekannten noch miterlebt haben, vorbei sind. Das System kriselt, es ächzt unter den Flüchtlingen. Dafür habe ich Verständnis. Man hat mich andererseits überhaupt nicht unter Druck gesetzt. Ich konnte uns in aller Ruhe einen festen Wohnsitz suchen. Erst dort sollte ich dann eine Arbeit aufnehmen.

… warum die Wahl auf Delitzsch fiel.

Ischewsk, wo ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe, ist eine Großstadt. Wir wohnten dort an einer zentralen Straße, was ziemlich laut war. Das wollte ich nicht mehr. In Delitzsch haben wir eine Dreizimmerwohnung gefunden, die zwar am Stadtrand liegt, aber trotzdem nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt. Ich habe mir als Erstes ein Fahrrad gekauft. In Ischewsk konnte ich das nie, weil unsere Wohnung im sechsten Stock war und es keinen Fahrstuhl gab, um es hoch- und runterzubugsieren.

Am 1. August habe ich einen Teilzeitjob als Büroleiterin einer Nachhilfeschule angetreten. Da kommt mir meine Erfahrung von früher zugute. Die Arbeit ist ein Volltreffer und ein großes Glück.

Nach Feierabend gehe ich im Wald spazieren oder schaue in einer benachbarten Eigenheimsiedlung in die Vorgärten. Ich kann mich an der Schönheit, die mich hier umgibt, wirklich erfreuen. Sie tut der Seele gut.

Delitzsch ist zwar nicht sehr groß, aber trotzdem hat die Theaterakademie Sachsen hier ihren Sitz. Und Leipzig ist ganz in der Nähe. Wenn alles klappt, dann fängt meine ältere Tochter nächstes Jahr ein Studium an der Leipziger Musikhochschule an. Und schon im Herbst wird sie hoffentlich zum Vorspielen beim MDR-Sinfonieorchester eingeladen.

… warum sie trotzdem fast aufgegeben hätte.

Wenn man so aktiv war wie ich in Russland und dann monatelang in der Luft hängt, das ist schwer auszuhalten. Dann denkt man schon mal, ob es nicht besser wäre, wieder umzukehren. Das geht vielen so. Oft belasten die Probleme das Familienklima. Aber da muss man durch. Wir haben den schwierigsten Teil relativ zügig bewältigt. Der nächste Schritt ist jetzt wahrscheinlich, zu dritt auch mal irgendwo hinzufahren, an die Ostsee zum Beispiel.

Trotzdem schließe ich nicht aus, irgendwann nach Ischewsk zurückzukehren. Ich sehe dort eine Aufgabe für mich. Mit dem Wissen und den Fertigkeiten, die ich hier erwerbe, könnte ich dort noch wertvoller sein. So denke ich zumindest heute. Möglich, dass ich in einem Jahr anders dazu stehe. Ich hoffe, in Deutschland legt mir solche Gedanken niemand als Undankbarkeit aus.

… was ihr an den Deutschen ein Rätsel ist.

Ich bin in Deutschland schon vielen lieben und hilfsbereiten Menschen begegnet. Wenn die Leute hören, dass ich aus Russland komme, dann erzählen sie oft, dass sie selbst oder ihre Eltern Russisch gelernt haben. Manche erinnern sich an russische Märchen. Aber was mich immer wieder wundert, ist, wie zeitig sich hier abends die Straßen leeren. Im Juli war eine Verwandte von mir aus Georgien zu Besuch. Wir sind bei uns in der Gegend bummeln gegangen. Sommer, ein wunderschöner Abend – aber ringsum keine Menschenseele. Wie kann das sein? In Ischewsk und erst recht in Georgien wären um diese Zeit viele Leute draußen gewesen.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: