Die Forschung zum ostslawischen Raum war bisher vielfach russlanddominiert. Doch das hat sich in den letzten Monaten geändert. So ist es allein schon viel schwieriger geworden, überhaupt nach Russland zu kommen. Auch herrscht Unklarheit darüber, wie es um den Zugang zu russischen Archiven bestellt ist. Als Reaktion auf die russische „Sonderoperation“ in der Ukraine wurden von westlicher Seite viele Stipendien, Förderprogramme und Kooperationen mit Russland- oder auch Belarusbezug gekippt. „Ich hatte mich für ein Auslandssemester in Moskau beworben, aber dann wurde das Programm ausgesetzt“, erzählt etwa Qi Zhang, die an der Humboldt Universität Berlin osteuropäische Geschichte studiert. Nun wisse sie nicht einmal, ob eine Promotion zu einem Russlandthema überhaupt möglich sein werde.
Doppelabschluss abgeschafft
Maria Mackert ist von den neuen Realitäten noch stärker betroffen. Sie studierte im Rahmen eines Kooperationsprojektes der Universität Konstanz und der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, an dessen Ende ein deutscher und ein russischer Abschluss standen – eigentlich. „Meinen Studiengang gibt es in der Form, in der ich ihn angefangen habe, überhaupt nicht mehr. Die Kooperation wurde diskussionslos und über unsere Köpfe hinweg beendet“, berichtet die Masterstudentin. Dabei war der Doppelabschluss für sie ein ausschlaggebendes Argument gewesen, sich in Konstanz einzuschreiben.
Parallel dazu reagierten die Universitäten auf den erhöhten Informationsbedarf mit unzähligen Veranstaltungen zur Ukraine. Diese war lange Zeit nicht gerade das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen. Viele Deutsche hatten kein besonders ausdifferenziertes Bild vom östlichen Europa als solchem. Die Ukraine war ein Land unter vielen, wirtschaftlich nicht so relevant wie beispielsweise Russland und touristisch nicht so beliebt wie Polen oder Ungarn. Experten für ukrainische Themen schienen nicht in Größenordnungen gebraucht zu werden.
Hinzu kommt, dass die Finanzierung der einzelnen Studiengänge von der Zahl der jeweiligen Studenten abhängt. Salopp gesagt: Weil sich nicht unbedingt viele mit der Ukraine beschäftigen wollten, gab es auch immer weniger Möglichkeiten dafür. Das war wiederum nicht gerade förderlich für das Interesse an dem Thema. Diese Abwärtsspirale galt allerdings nicht nur für die Ukrainistik, sondern die meisten Fächer mit Osteuropabezug.
Ukraine stärker im Fokus
Mit der neuen Aufmerksamkeit für die Region finde nun ein Umdenken statt, sagt ein Professor für osteuropäische Geschichte aus Hessen. Während man bis vor Kurzem Russland, Belarus und die Ukraine vielfach für eine nebulöse Einheit gehalten habe, breche diese Vorstellung immer mehr auf.
Gleichzeitig verändert sich auch die personelle Zusammensetzung an den Universitäten, da es zahlreiche Stipendien- und Hilfsangebote für geflüchtete ukrainische Studenten und Wissenschaftler in Deutschland gibt. Das gesteigerte Interesse an ukrainischen Themen und der offensichtliche Nachholbedarf schlagen sich auch in zahlreichen Förderungen für Forschungsprojekte nieder. In Kombination mit entsprechenden Experten aus dem Land selbst dürfte die Anzahl an Fachpublikationen zur Ukraine stark ansteigen.
Die Russischdozentin Ekaterina Sergeeva von der Justus-Liebig-Universität Gießen prognostiziert, dass die Nachfrage nach Russisch an den Universitäten sinken wird. „Der größte Teil der Studenten in meinen Sprachkursen lernte Russisch als Finanz- und Handelssprache. Im Moment ist allerdings überhaupt nicht absehbar, ob und wann es zu einer wirtschaftlichen Normalisierung zwischen Deutschland und Russland kommt.“
Die akademische Beschäftigung mit Russland befindet sich in einem komplexen Spannungsfeld verschiedener Einflüsse. Während die Ukraine eine neue, ungekannte Aufmerksamkeit genießt, schafft die momentane Situation auch eine Notwendigkeit, sich noch stärker mit Russland auseinanderzusetzen. Welche Schlüsse man aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zieht, bleibt dann jedem selbst überlassen.
Joseph Karl-Friedrich Brömel