„Russlandfieber“ in Büdingen

Das hessische Büdingen hat nicht nur eine zauberhafte mittelalterliche Altstadt, sondern spielte auch eine Schlüsselrolle bei der Auswanderung von Deutschen nach Russland im 18. Jahrhundert. Was von dieser Geschichte heute noch präsent ist, haben sich eine Gruppe Russlanddeutscher und MDZ-Redakteurin Olga Silantjewa vor Ort zeigen lassen.

Christa Hollnagel und eine Karte mit der Route der Kolonisten von Büdingen bis an die Wolga (Foto: Olga Silantjewa)

Die Stadt Büdingen ist nicht klein – immerhin hat sie über 22 000 Einwohner. Alt – ihr Name wird bereits in einer Chronik von 847 erwähnt. Sie ist reich an Sehenswürdigkeiten: Büdingen ist berühmt für eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Burgen in Europa. Das alles steht im entsprechenden Wikipedia-Eintrag. Was dort nicht erwähnt wird: Die Geschichte vieler Tausend russlanddeutscher Familien beginnt hier.

Davon erzählt Stadtführerin Christa Hollnagel mit großer Begeisterung. Sie hat die Themenführung „Russlandfieber“ durch die historische Innenstadt ausgearbeitet. Der Magistrat der Stadt Büdingen veranstaltet sie nun für Interessierte.

Marktplatz

Der Ausgangspunkt ist auf dem Marktplatz. Wir lauschen der Geschichte und stellen uns vor, wie der Anwerber Ende 1765 hier das Manifest der russischen Zarin Katharina II. verlas. Sie hatte es zwei Jahre zuvor herausgegeben. In dem Manifest versprach die Kaiserin den Bewohnern Westeuropas, die es wagten, als Kolonisten nach Russland zu gehen, verschiedene Privilegien. Dazu gehörten Religionsfreiheit, Steuerfreiheit für 30 Jahre, Selbstverwaltung in der Muttersprache und Befreiung vom Militärdienst.

Aus verschiedenen Gründen waren es vor allem die Deutschen, die sich für die Versprechen der Kaiserin interessierten. Sie hatten in jenen Jahren eine schwere Zeit hinter sich. Der Siebenjährige Krieg war gerade zu Ende gegangen. Viele waren arm, konnten ihre Schulden nicht begleichen. Ihre Landesherren waren jedoch misstrauisch gegenüber der russischen Werbekampagne: Wer sah es schon gern, dass die Menschen aus dem eigenen Herrschaftsgebiet davonliefen?

Aber Gustav Friedrich von Isenburg-Büdingen war nicht gegen die Agitation in seinem Ort. Er genehmigte sogar die Einrichtung eines Sammelplatzes in Büdingen. Vielleicht verstand er die Menschen, die wegwollten. Er selbst war von Schulden und Kriegen geplagt. Seine Grafschaft versorgte die französische Armee, aber ihre versprochenen Zahlungen blieben aus. Gustav galt in der dänischen Armee als hochrangiger Offizier, und für den Rang musste er viel Geld zahlen. Außerdem war es Gustavs Vater Ernst Casimir ein halbes Jahrhundert vor den oben beschriebenen Ereignissen gelungen, Hunderte von Einwanderern in die Stadt zu holen, um Handel und Landwirtschaft wiederzubeleben, die während des Dreißigjährigen Krieges, der Pest und der Brände fast zugrunde gegangen waren. Doch diese Initiative führte zu neuen Schulden. 

Alles in allem war die Situation in Büdingen nicht einfach. Und der Graf drückte ein Auge zu bei der Arbeit des Anwerbers.

Historisches Rathaus

Sein Name war Johann Facius. Einen Steinwurf vom Marktplatz entfernt, im dritten Stock des Rathauses (heute befindet sich in dem Gebäude das Heuson-Museum), richtete er sein Büro ein und nahm Besucher in Empfang. Diejenigen, die sich als Kolonisten anmeldeten, konnten beantragen, dass ihre Schulden übernommen wurden. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, mussten sie auf eine gemeinsame Ausreise nach Lübeck warten. Von dort aus reisten die Deutschen mit dem Schiff nach Kronstadt, einem Hafen in der Nähe von St. Petersburg.

In Büdingen sind Dutzende von Fachwerkhäusern erhalten geblieben, die bereits zur ersten Auswanderungswelle nach Russland vorhanden waren. Viele befinden sich in unmittelbarer Nähe des Rathauses. In ihren Erdgeschossen befanden sich Scheunen. Hier wohnten die Kolonisten, während sie auf einen Termin bei Facius warteten.

Nach dem Termin wurden viele wahrscheinlich in Zelten untergebracht, die in der Nähe der Stadtmauern aufgestellt worden waren. Übrigens standen schon zu dem Zeitpunkt die neuen Häuser derjenigen, die vor religiöser Verfolgung auf Einladung von Graf Ernst Casimir nach Büdingen geflohen waren, außerhalb der Mauern. Also trafen da die beiden Auswanderungswellen aufeinander.

Die Altstadtstraße, das höchste Gebäude auf dem Foto (auf der rechten Seite) ist das historische Rathaus (Foto: Olga Silantjewa)

Steinernes Haus

Am Ende der Altstadtstraße, die vom Marktplatz am Rathaus vorbeiführt, stand schon damals das Steinerne Haus. Der spätgotische Bau wurde vor 1500 als Stadtresidenz für den Grafen Johann zu Isenburg errichtet.

Heute steht das Haus leer und ist dem Verfall preisgegeben. Margarete Ziegler-Raschdorf, die ehemalige Landesbeauftragte der Hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, diskutierte sogar mit dem Büdinger Bürgermeister die Idee, in dem Gebäude ein Museum für russlanddeutsche Geschichte zu eröffnen.Doch das scheiterte an den Finanzen: Für die Restaurierung werden Millionenbeträge benötigt, die nicht zur Verfügung stehen.

Büdinger Schloss

Das Büdinger Schloss erhielt sein jetziges Aussehen im 16. Jahrhundert. Noch heute wohnt dort die  Fürstenfamilie zu Isenburg und Büdingen. Der äußere Schlosshof ist für Besucher frei zugänglich. In seiner Mitte steht eine Pyramiden-Eiche. Christa Hollnagel erzählt von einer Führung für eine russlanddeutsche Gruppe vor ein paar Jahren. Ein junger Mann sagte dabei, dass dieser Baum von seinen Vorfahren gepflanzt worden sei, bevor sie nach Russland gingen. „Das kann sein“, meint die Stadtführerin. Denn der Baum wurde wahrscheinlich im 18. Jahrhundert gepflanzt.

Im Schlosshof (Foto: Olga Silantjewa)

Marienkirche

Unweit des Schlosses steht die Marienkirche. Sie spielte eine besondere Rolle in der Geschichte der Auswanderung der Deutschen aus Hessen. Denn hier heirateten die zukünftigen Kolonisten: Familien hatten mehr Privilegien bei der Auswanderung.

Deshalb wurden in Büdingen im Jahr 1766 viele Hochzeiten gefeiert. Es ist bekannt, dass zwischen dem 24. Februar und dem 8. Juli jenes Jahres 375 Paare in der Kirche getraut wurden, bis zu elf pro Tag. Die Trauregister der evangelischen Kirche Büdingen sind erhalten geblieben. Stellen Sie sich vor: Tausende von Menschen warten seit vielen Tagen auf die Ausreise nach Russland, leben eng beieinander – in Zelten, in Häusern. Und Singles suchen nach einem Partner oder einer Partnerin: „Willst du mich heiraten?“

Marienkirche in Büdingen (Foto: Olga Silantjewa)

Obergasse

Wir gehen durch die Obergasse in Richtung Jerusalemer Tor. In der ersten Hälfte des Jahres 1766 pulsierte hier das Leben – wenn die Wände der Fachwerkhäuser sprechen könnten, würden sie es erzählen. Die Bäcker, Molkereien und Metzgereien, die ihre Geschäfte in der Obergasse hatten, profitierten von den vielen Menschen, die sich in der Stadt sammelten.

Nach Angaben von Christa Hollnagel ist die genaue Zahl nicht bekannt. „8000 oder 20 000“, sagt sie. Wahrscheinlich handelt es sich doch um 8000, denn zwischen 1763 und 1772 kamen 30 623 Menschen nach Russland. Dies schmälerte jedoch die Bedeutung von Büdingen nicht – es war der größte bekannte Sammelpunkt.

Ende des 20. Jahrhunderts kehrten die meisten Nachkommen dieser Kolonisten aus Russland in ihre Heimat zurück. Nach offiziellen Angaben leben heute etwa 280 000 Russlanddeutsche in Hessen.

Olga Silantjewa

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