Russland nahm er persönlich: Zum Tod von Gisbert Mrozek

Viel näher als Gisbert Mrozek kann man Russland als Deutscher nicht kommen. Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte hat er die Um- und Aufbruchjahre dieses Landes journalistisch begleitet, darunter als Chef der Moskauer Internetzeitung „Russland aktuell“. Zuletzt lebte Mrozek zwischen Moskau und St. Petersburg auf dem Lande. Nun ist er gestorben.

Kam, sah und blieb: Gisbert Mrozek 2010 (Foto: Karsten Packeiser)

Nicht immer hatten es die deutschen Redaktionen einfach mit Gisbert Mrozek – und er mit ihnen: Mit schusssicherer Weste und schwerem Satellitentelefon war er an die Front aufgebrochen, als im Kaukasus der zweite Tschetschenien-Krieg tobte. Desillusioniert kehrte er von der riskanten Reise zurück – nicht nur wegen seiner Erlebnisse, sondern auch, weil man ihm aus Deutschland mitgeteilt hatte, dass man sein Engagement zwar zu schätzen wisse, er seine Radiostücke künftig aber lieber in Studioqualität aus Moskau liefern solle.

Innenansichten der späten Sowjetunion

Mrozek war ein Vollblutjournalist, und für ihn war immer klar: Ein Korrespondent muss so über die Dinge berichten, wie er sie vorfindet – und nicht so, wie er oder Redakteure in der Heimat sie gerne hätten. 1989 hatte er sein großes Abenteuer begonnen, die Stelle beim niedersächsischen Privatradio FFN aufgegeben und war als Korrespondent der Rundfunknachrichtenagentur Rufa in die Sowjetunion umgezogen. Von dort aus erklärte er den Hörern die Perestroika und schließlich den Untergang der Supermacht. Bald berichtete der Radiomann auch für Printmedien. Er heiratete seine Journalisten-Kollegin Natalia Aljakina und gründete mit ihr eine eigene Presseagentur namens rufo, die zeitweise auch als Korrespondentenbüro für Focus, die Berliner Zeitung und andere Medien fungierte.

Im Chaos der 1990er Jahre wurde eine der zahllosen russischen Tragödien zu Mrozeks persönlichem Drama: Im Juni 1995 brach er gemeinsam mit seiner Frau nach Budjonnowsk auf, wo der tschetschenische Warlord Schamil Bassajew in einem Krankenhaus über 1000 Geiseln in seine Gewalt gebracht hatte. Das Taxi der beiden hatte gerade eine russische Straßensperre am Stadtrand passiert, als es von mehreren Schüssen aus einem Maschinengewehr getroffen wurde. Tödlich verwundet verblutete Natalia Aljakina auf dem Rücksitz. Mehrere Jahre kämpfte Mrozek für eine Verurteilung des Todesschützen. Der Fall wurde zum Politikum, doch der junge Soldat erhielt lediglich eine unbeträchtliche Bewährungsstrafe. Nach offizieller Lesart hatte sich die Salve versehentlich gelöst.

Russisch war Redaktionssprache

Andere Ausländer hätten Russland nach einem derartigen Schicksalsschlag wohl für immer verlassen. Mrozek aber blieb. Und Russland wurde ihm immer mehr zur Heimat. Im Winter tauchte er am Epiphanias-Tag in Eislöcher und in der rufo-Redaktion am Weißrus­sischen Bahnhof in Moskau wurde Russisch zur Umgangssprache – selbst wenn bei den Redaktionssitzungen nur Deutsche am rustikalen Besprechungstisch saßen. Kaum ein deutscher Korrespondent in der russischen Hauptstadt war so gut vernetzt. Gefühlt kannte Mrozek jeden, der etwas zu sagen hatte.

Nach der Jahrtausendwende startete schließlich das Projekt, das ihm womöglich am meisten bedeutete: eine Internet-Zeitung in deutscher Sprache, die ohne Klischees und Schönfärberei so über Russland berichtete, wie die deutsch-rus­sische Redaktion das Land erlebte. Anfangs als „Moskau.ru“ ins Netz gestellt, etablierte sich das Portal schließlich unter der Marke „Russland aktuell“. Bald gab es sogar Außenstellen in St. Petersburg und Kaliningrad.

Auf dem Stand von Anfang 2016: die Titelseite von „Russland aktuell“ heute

Interne Querelen führten zur Gründung eines Konkurrenz-Projekts. Auch finanziell gelang es nie, die Online-Zeitung stabil auf eigene Beine zu stellen. Den eigenen hohen Ansprüchen tat das lange keinen Abbruch: Bei möglichst jeder deutschen Party in Moskau sollten die Berichte von „Russland aktuell“ Gesprächsstoff sein, auf jeder wichtigen Pressekonferenz sollte ein Mikro mit dem Zeitungslogo platziert sein – so lautete das selbst gesteckte, ambitionierte Ziel.

Von Mrozeks Enthusiasmus, seinen Ideen und seinem Wagemut profitierten gerade in diesen Jahren zahlreiche deutsche und russische Journalisten, für die rufo zum Sprungbrett wurde. Nicht alle kamen mit seiner zuweilen ruppig-kantigen Art klar, aber manche blieben viele Jahre. Bewerber um einen Praktikumsplatz oder einen Job als freie Mitarbeiter bekamen von ihm nie eine Absage. Wer sich von der durchaus ernst gemeinten Devise „Minimale Honorare, maximaler Stress“ nicht abschrecken ließ, hatte einen Arbeitsplatz – und mit etwas Glück auch eines der heiß begehrten Akkreditierungskärtchen des russischen Außenministeriums.

Sein letztes Thema war das Dorf

Den Machern von „Russland aktuell“ ging irgendwann die Luft aus, seit 2016 wird die Seite nicht mehr aktualisiert. Auch die Entfremdung zwischen Mrozek und den deutschen Redaktionen wurde mit den Jahren größer. Die Rufa – zwischenzeitlich von der dpa übernommen – beendete mitten in der Ukraine-Krise nach über 25 Jahren die Zusammenarbeit. Der Journalist verbrachte seine Zeit seither vorwiegend in einem kleinen Dorf in den Wäldern der idyllischen Waldai-Höhen, wo er mit seiner zweiten Frau sein einstiges Wochenendhaus zu einem Bio-Bauernhof ausbaute. Seinen Schafen und Hühnern widmete er sich mit der gleichen Begeisterung wie früher den Politik-Skandalen im fernen Moskau. Noch im Frühjahr hatte er Besuch von einem Kamerateam des Regionalfernsehens. „Das hier ist das echte, vollwertige Leben. Mit Computer und Smartphone am Schreibtisch herumzusitzen – das ist einseitig“, erklärte er der Reporterin. Gisbert Mrozek starb am 11. Mai völlig unerwartet auf seinem Bauernhof. Er wurde 70 Jahre alt.

Karsten Packeiser

Der Autor war von 2000 bis 2007 Redakteur bei rufo. Seither berichtet er für den Evangelischen Pressedienst epd aus Mainz und betreibt in seiner Freizeit den Russland-Blog „Rhein-Wolga-Kanal“.

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