Russen über ein Jahr, das vieles verändert hat

Seit dem 24. Februar 2022 ist das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt worden. Einige sind ins Ausland gegangen, andere in die innere Emigration. Manch einer hilft den Flüchtlingen aus der Ukraine, andere unterstützen die Bewohner des Donbass. Wieder andere wurden selbst fast Flüchtlinge. Wir haben die Geschichten einiger Russen zusammengetragen.

Ein Jahr unter dem Buchstaben „Z“: Auf der Fassade eines Hauses in Nischni Nowgorod wird der Held der Sowjetunion Alexander Kusnetzow zitiert: „Ich unterstütze die Armee Russlands.“ (Foto: Tino Künzel)

Tatjana Lutschewa (56),
Produktionsleiterin eines Drehstabes aus Istra, Moskauer Gebiet

Mein Leben hat sich nach dem 24. Februar kaum verändert. Ich habe schon mit 15 Jahren angefangen, Freiwilligenarbeit zu leisten. Und ich bin schon 56, habe vier Kinder. In Kürze kommt das sechste Enkelkind zur Welt. Aber seit dem vergangenen Jahr ist diese Tätigkeit lebensgefährlich geworden, denn ich helfe den Menschen im Donbass. Die Kinder haben Angst um mich und flehen mich an, nicht an die Front zu fahren. Aber wer soll denn dann fahren?

Tatjana Lutschewa mit ihren Helfern im Donbass (Foto: privat)

Wir haben nicht gleich angefangen, humanitäre Hilfe in die frontnahen Siedlungen zu bringen. Die ersten drei Monate nach Beginn der Spezialoperation haben meine Freunde aus Istra und ich Geld gespendet. Dann fuhren wir in Kinderheime, wo Kinder aus dem Donbass untergebracht waren, die beim Beschuss ihre Eltern verloren hatten. Wir haben sogar Animateure dorthin gebracht.

Aber seit Herbst fuhren wir monatlich an die Front. Wir bringen Pampers, Lebensmittel, Bettwäsche hin. Alles, was die Menschen benötigen, aber dort nicht kaufen können. Wir haben einen Kleintransporter. Morgen fahren wir mit drei Autos an die Front. Eines davon ist ein Lastwagen. Ihn anzumieten, kostet zusammen mit dem Fahrer 90 000 Rubel (etwa 1300 Euro – Anm. d. Red.). Wir haben zwei Wochen lang das Geld dafür gesammelt. Bei Freunden und Freunden von Freunden. Man muss  begreifen, dass das keine Touristenreise ist. Militär begleitet uns bis zum Bestimmungsort und zurück. Es gibt Abschnitte, die unter Dauerbeschuss stehen. Aber dort im Donbass leben Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Die Faschisten beschießen sie, sogar die Schulen, Kindergärten und Wohnhäuser. Sie sprengen Wasserleitungen, damit die Menschen kein Wasser haben. Seit 2014.

Kristina (31), Buchhalterin, lebt in Stroitel, Gebiet Belgorod

Um genau zu sein, leben wir jetzt nicht in Stroitel. Im Oktober zog unsere Familie zu den Eltern meines Mannes, die ein Haus im Gebiet Tula haben. Die Kinder, wir haben zwei im Grundschulalter, lernen online. Es geht darum, dass unsere Stadt in 60 Kilometer Entfernung von der russisch-ukrainischen Grenze liegt. Nach Beginn der Kampfhandlungen war es gefährlich, dort zu leben. Klar, Stroitel gilt nicht als Grenzgebiet und wird nicht von der Ukraine aus beschossen, wie einige Siedlungen unseres Gebietes. Aber wir hörten pausenlos die russische Luftabwehr, vor allem nachts. Wie auch immer, wir haben es nicht ausgehalten. Wir gaben unseren Verwandten die Schlüssel und baten sie, nach den Blumen und den Fischen zu sehen. Den Hund nahmen wir mit. Wir möchten sehr nach Hause zurückkehren, aber es ist alles ziemlich perspektivlos.

Marina (49), Sekretärin, lebt seit 2007 in Bayern

Die ersten Tage, sogar die ersten Monate war ich verwirrt, schockiert, ständig bedrückt. Ich fühlte Angst und Hilflosigkeit, und ich verstand nicht, wie so etwas überhaupt passieren konnte. Mein Mann und ich, er ist Deutscher, haben viel gelesen und alles Mögliche geschaut, wir versuchten, die Ursachen des Konfliktes zu ergründen. Es gab sogar Momente, wo ich nicht mehr leben wollte. Vielleicht wollte ich nur weiterleben, um alle Schuldigen auf der Anklagebank zu sehen. Es wurde ein wenig leichter, als ich begann, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen, später auch den Menschen in der Ukraine.

Nach von Volontären und Flüchtlingen zusammengestellten Listen sammeln wir Kleidung und andere Dinge und schicken sie an die Bedürftigen. Den Flüchtlingen hier helfe ich mit allem, was mir möglich ist. Manchmal fragen sie mich, wo ich herkomme. Wissen Sie, mir ist es peinlich zu gestehen, dass ich aus Russland komme. Ich weiß nicht, ob ich irgendwann einmal in meine Heimat reisen möchte. Ende Februar 2022 warf ich alle russischen CDs und DVDs mit russischen Liedern und Filmen weg, die ich zu Hause hatte. Ich hasste alles, was mit Russland verbunden war.

Mit der Zeit wurde das Hassgefühl differenzierter. Ich sehe, dass es Russen gibt, die die Kampfhandlungen in der Ukraine nicht befürworten. Die Verwirrung wandelte sich in Wut. Wut auf die Leute, wegen denen mein Leben innerhalb kurzer Zeit von den Füßen auf den Kopf gestellt und meine Beziehungen zu Freunden und Verwandten zerstört wurden. Ich hatte so gehofft, dass jetzt die Pandemie vorbei sein wird und ich meinen Neffen, die im Ural leben, eine andere Welt zeigen kann! Ich hatte schon unsere Reise nach Italien geplant. Und jetzt weiß ich nicht einmal, wann ich sie wiedersehen kann. Mein Verhältnis zu meinen Verwandten ist sehr angespannt geworden. Manchmal reißt der Kontakt zu ihnen gänzlich ab. Sie haben eine andere Meinung zu dem Geschehen.

Sergej (34), Journalist, Moskau

Ich arbeite seit anderthalb Jahren bei dem YouTube-Kanal „Redakzija“. Das ist ein unabhängiges journalistisches Projekt. Sein Gründer wurde im vergangenen Jahr als ausländischer Agent eingestuft, der Kanal selbst nicht. Wir arbeiten weiter, umgehen jedoch bestimmte Wörter. In meinem Leben gibt es auch nicht besonders viele Veränderungen. Im vergangenen Jahr habe ich über eine Auswanderung nach Deutschland nachgedacht, trug alle Unterlagen zusammen, um den Spätaussiedlerstatus zu bekommen. Jetzt warte ich auf den Bescheid.

Eine Philologin (45) aus Vilnius (sie bat, ihren Namen nicht zu nennen)

Bevor ich erzähle, wie sich mein Leben im vergangenen Jahr verändert hat, möchte ich betonen, dass ich kein Recht habe, mich über die Situation zu beklagen, wenn in dieser Zeit Tausende Ukrainer umgekommen sind, Millionen ihre Häuser verlassen haben und in der Fremde leben müssen.

Mein Leben und das meiner Angehörigen hat sich für immer zum Schlechten verändert. Mein Mann und ich hatten bis zum letzten Moment vor, in Russland, das wir sehr lieben, zu bleiben. Aber vor einem halben Jahr mussten wir doch das Land verlassen, weil meinem Mann wegen missbilligender Äußerungen in Bezug auf die Politik des Staates eine Haftstrafe drohte. Ungeachtet dessen, dass die Daumenschrauben ständig angezogen wurden, starben mit dem Beginn der kriegerischen Handlungen endgültig unsere Hoffnungen, dass in Russland eine echte Demokratie möglich ist und der Glaube daran, dass die Bemühungen von Journalisten aus unabhängigen Medien, Menschenrechtsaktivisten, Abgeordneten (nicht von der herrschenden Partei) zwar kleine, aber nachhaltige Veränderungen bewirken können. Kurz gesagt, alle humanistischen Werte sind zusammengebrochen.

Ich fühle sehr intensiv, dass das, was geschehen ist – der [Sonderoperation], der Tod von Menschen, die Zerstörung der Städte – nicht wiedergutzumachen ist, was an sich ein neues und schwer zu ertragendes Gefühl ist. Bis dahin dachte ich immer, dass man alles mit Worten oder Taten wieder ins Lot bringen kann.

Etwas ganz Privates ist, dass wir die ganze Zeit unsere Eltern nicht gesehen haben, die sich keiner guten Gesundheit erfreuen.  Wir haben unsere Freunde nicht treffen können, von denen die Hälfte nun in verschiedenen Ländern lebt, die andere Hälfte in Russland blieb. Wir vermissen den Kater unserer Eltern, unsere Bibliothek, die Blumen, unsere Hobbys, denen man nicht an unserem neuen Wohnort nachgehen kann, die Lieblingsplätze in der Stadt.

Michail Tscherbinin (65), Rentner, Moskau

Ich unterstütze voll und ganz, was unser Präsident macht. Ich finde, nur so bleibt unser Land unabhängig. Russland verteidigt die russischen Menschen im Donbass, die nicht den Weg gehen wollen, den Kiew 2014 gewählt hat. Trotzdem schaue ich mir täglich „Freedom“ an. Das ist eine ukrainische YouTube-Sendung auf Russisch, speziell für die russischen Bürger. Ich will wissen, was die anderen über die Ereignisse in der Ukraine und in Russland sagen. Ich lese verschiedene Telegram-Kanäle, unter anderem InoSMI – da findet man Artikel aus den leitenden Medien der Welt, ins Russische übersetzt. Die wesentlichste Veränderung in meinem Leben in diesem Jahr sind die gestiegenen Preise für Lebensmittel. Man sagt, die Inflationsrate beträgt nur 7 Prozent. Das stimmt aber nicht. Das merkt man beim Einkaufen.

Zusammengestellt von Olga ­Silantjewa


Die öffentliche Meinung

Am 20. Februar stellte das Allrussische Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung (WZIOM) die Ergebnisse der Umfrage zur Veränderung der öffentlichen Meinung innerhalb eines Jahres vor, seit dem Beginn der „Sonderoperation“. Laut den Angaben von Januar „unterstützen“ 68 Prozent der Bürger Russlands die „Sonderoperation“, 20 Prozent sind dagegen. Vor genau einem Jahr zeigte eine ähnliche Umfrage, dass 68 Prozent sie „eher unterstützen“, dagegen waren 22 Prozent. 10 Prozent taten sich damals schwer mit einer Antwort.

Die Bereitschaft zur Unterstützung der Bewohner der neuen Gebiete und der russischen Soldaten drückten 79 Prozent der Bevölkerung aus, eeinberufenen Bürgern zu helfen 74 Prozent, Flüchtlingen zu helfen 72 Prozent. Innerhalb eines Jahres ist das Vertrauen in den russischen Präsidenten Wladimir Putin um 13 Prozent gewachsen und beträgt nun 78 Prozent. Vor dem Hintergrund des Beginns der „Sonderoperation“ hat sich die Bereitschaft der Bürger Russlands zu Protestaktionen stabilisiert. Seit April „hat diese Kennziffer 12 Prozent nicht überstiegen“.

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