Angela Merkel ist dann doch nicht gekommen. Dabei war die ehemalige Bundeskanzlerin extra mit einem Brief in deutscher Sprache nach Ober-Karbusch (auf Russisch Werchni Karbusch) eingeladen worden. Man stelle sich vor, sie hätte sich Anfang November tatsächlich in das sibirische Dorf bei Omsk aufgemacht, um mit dessen Bewohnern an Holztischen auf der Karbyschew-Straße zu sitzen, Schaschlyk zu essen und einem Kulturprogramm zu lauschen. Die Sensation wäre perfekt gewesen.
Asphalt für eine Million Euro
Aber es ist ja auch so sensationell, was es in dem kleinen Ort zu feiern gab. Bei grauem Herbstwetter war das halbe Dorf auf den Beinen, als mit einem großen Fest seine älteste und längste Straße wiedereröffnet wurde. Die trägt nach einer umgerechnet etwa eine Million Euro teuren Rekonstruktion nun Asphalt. Was das für eine Errungenschaft ist, davon weiß man auf dem russischen Land ein Lied zu singen.
Trotz Schmuddelwetter war ganz schön was los.
Ein Chor gab Lieder und Tänze zum Besten. In Vierzeilern bekam die Obrigkeit ihr Fett weg.
Auf Plakaten wurde unter anderem auch Angela Merkel gedankt.
Auch die Karbuscher haben sich den Eintritt in die „neue Zivilisation“, wie es auf einem Plakat hieß, erkämpfen müssen. Angeführt von zwei starken Frauen im Gemeinderat, machten sie unter anderem durch einen Video-Hilferuf an Angela Merkel im Sommer 2021 von sich reden. Ihre Karbyschew-Straße sollte endlich nicht mehr im Matsch versinken wie zu Zeiten der Dorfgründung durch Deutsche vor über hundert Jahren. Dass daraufhin auch noch Kremlsprecher Peskow das Anliegen als „berechtigt“ bezeichnete, brachte den Stein ins Rollen.
Einweihung ohne Behördenvertreter
Ob die Kunde von diesem Wunder in Sibirien Angela Merkel je erreicht hat, ist nicht bekannt. Doch dass sich das Bundeskanzleramt mit einem Schreiben bei ihnen meldete, haben sie in Ober-Karbusch nicht vergessen und dankten Merkel bei ihrem Dorffest ein weiteres Mal in Wort und Schrift.
Von den Behörden, die so kreativ unter Druck gesetzt worden waren, ließ sich derweil niemand blicken. Dort ist man noch immer verschnupft, was sich die aufmüpfigen Karbuscher so alles erlauben. Bei denen war am Rande des Festes auch ein Transparent zu sehen, das die Aufschrift trug: „Hier hat das Volk die Macht!“
Tino Künzel