Neue Ehren für alte Helden in Tschetschenien

In Tschetschenien wird man nicht müde, Loyalität gegenüber Moskau zu bekunden. Gleichzeitig gelten Anführer des Widerstandskampfes gegen Russland im 18. und 19. Jahrhundert als Natio­nalhelden. Zwei neue tschetschenische Bataillone wurden jetzt nach Scheich Mansur und Bajsangur von Benoj benannt. Wie passt das zusammen?

Tschetschenische Soldaten bei einer Militärparade zum Tag des Sieges in Grosny (Foto: Kirill Kallinikow/RIA Novosti)

Bereits in der Vergangenheit waren Scheich Mansur und Bajsangur von Benoj als Namensgeber in Tschetschenien gefragt. So wurden beispielsweise Ende 2020 zwei von vier Bezirken der Hauptstadt Grosny entsprechend umbenannt. Dennoch hat die Ankündigung von Ramsan Kadyrow, des Oberhaupts der Region im Nordkaukasus, zur Bildung neuer Bataillone innerhalb tschetschenischer Einheiten der russischen Armee und ihrer Namen für einiges Aufsehen in Russland gesorgt. Und das schon deshalb, weil auch auf Seiten der Ukraine eine tschetschenische Einheit kämpft, die aus Anhängern der Unabhängigkeit Tschetscheniens besteht und sich ebenfalls nach Scheich Mansur benannt hat. Aber auch für sich betrachtet ist die Wahl dieses Namenspatrons für eine Militärformation in Russland bemerkenswert: Mansur war im späten 18. Jahrhundert einer der Anführer des Widerstands gegen den russischen Vormarsch im Kaukasus.

Die Vorstöße hatten bereits im 17. Jahrhundert begonnen. Doch die entscheidenden Veränderungen in der Expansionspolitik fanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Katharina der Großen statt. Damals verschärfte sich die Konfrontation zwischen Russland und dem Osmanischen Reich. Der Kaukasus, in Dutzende kleine Fürstentümer unterteilt, wurde zu einer der Fronten des Kampfes.

Scheich Mansur: Verehrt und gefürchtet

Russland hatte zunächst nicht die Absicht, die Region zu annektieren. Der Vormarsch ging mit dem Ausbau von Infrastruktur wie Straßen und Festungen einher. So entstand zum Beispiel die Festung Grosnaja („die Furchtgebietende“) – das spätere Grosny.

Scheich Mansur wurde 1760 geboren und erhielt den Namen Uschurma. Schon als junger Mann begann er, in den Bergen aktiv und erfolgreich den Islam zu predigen. Die Völker des Nordkaukasus waren zu dieser Zeit noch weitgehend heidnisch, nur die Oberschicht gehörte dem Islam an. Paral­lel dazu verbreitete Russland das Christentum unter den Völkern der von ihm kontrollierten Gebiete. Uschurma nahm den Namen Mansur („der Siegreiche“) an. Und schon bald zeigten sich in seinen Predigten politische Züge. Mit der Unterstützung des Osmanischen Reichs rief Mansur zur Einigung des Kaukasus und zum Ghazawat („Heiligen Krieg“) gegen die heidnischen Bergbewohner und die Russen auf.

Festgenommen in Anapa

Mansur wurde in St. Petersburg anfangs unterschätzt – bis zu den ersten Niederlagen der Kosaken­truppen und Patrouillen. Die Menschen im Kaukasus verehrten Mansur zunehmend als Propheten, und Hunderte, wenn nicht Tausende von Tschetschenen strömten unter seine Fahne. Andererseits begannen die lokalen Herrscher in den benachbarten Fürstentümern, ihn zu fürchten, und einige zogen die Loyalität zu Russland vor. Nach ersten schweren Niederlagen gegen die disziplinierte und gut ausgebildete russische Armee im Jahr 1785 zog sich Mansur in die Berge zurück und verstummte.

1787 brach ein weiterer russisch-türkischer Krieg aus. Mansur versuchte erneut, einen Ghazawat zu entfachen – und diesmal sollten auch die Türken gegen Russen kämpfen. Doch Petersburg wiederholte nicht die Fehler der Vergangenheit. Scheich Mansurs Truppen wurden schnell aufgerieben und in den Bergen auseinandergetrieben, ebenso erlitt die türkische Armee empfindliche Niederlagen. Mansur konnte die Bergvölker nicht zum Aufstand bewegen und flüchtete zusammen mit den Türken in die türkische Festung Anapa, heute ein beliebter russischer Badeort am Schwarzen Meer. 1791 stürmten die Russen die Festung. Mansur wurde gefangen genommen und nach St. Petersburg gebracht. Zu lebenslanger Haft verurteilt, starb er drei Jahre später in der Festung Schlüsselburg.

Widerstand bis zum bitteren Ende

Bajsangur aus dem Stamm der Benoj (dem auch die Familie Kadyrow angehört) ist eine weitere prominente Figur des tschetschenischen Widerstands, allerdings aus dem 19. Jahrhundert. Er nahm an mehreren großen Volksaufständen teil und verlor bei den Kämpfen ein Auge, einen Arm und ein Bein.

Bajsangur wurde der engste Vertraute von Imam Schamil, dem damaligen geistlichen Führer des Kaukasus. Nachdem Schamil 1859 aufgegeben hatte, wurde Bajsangur Imam von Tschetschenien und führte den Widerstand gegen die russischen Truppen fort. Bald darauf rief er eine der letzten Erhebungen im Kaukasuskrieg aus und versuchte erneut, zum „Heiligen Krieg“ gegen die Christen zu mobilisieren. Jedoch wurde der Aufstand schnell niedergeschlagen, Bajsangur gefangen genommen und auf dem zentralen Platz der Stadt Chassawjurt im heutigen Dagestan gehängt.

Für Russland, gegen Russland

Auf den ersten Blick ergibt sich damit ein ziemlich paradoxes Bild. Einerseits ist Tschetschenien absolut moskautreu und Ramsan Kadyrow einer der loyalsten und zuverlässigsten Gefolgsleute im System der russischen Politik. Andererseits die demonstrative Benennung neuer Bataillone zu Ehren von Personen, die ihr Leben lang gegen Russland gekämpft haben.

Aber vielleicht ist der vermeintliche Widerspruch gar keiner. Zumindest passt dieser Schritt durchaus in die Logik der letzten Jahre, wenn nicht gar eines Jahrhunderts. In Tschetschenien wie auch anderswo im Kaukasus tragen unzählige Straßen die Namen von Mansur und Bajsangur. Die beiden Männer sind mit ihrer Geschichte identitätsstiftend für das tschetschenische Volk, sie konsolidieren bis heute – unabhängig von politischen Überzeugungen. Schon in der frühen Sowjetunion galten sie als Kämpfer gegen den imperialistischen Kolonialismus der Zaren. Während der Tschetschenienkriege in den 1990er Jahren widmeten ihnen die einheimischen Barden Lieder und Gedichte. Scheich Mansur sollte die größte Banknote der Währung eines künftigen unabhängigen Tschetscheniens zieren. Und auch die heutigen Machthaber in Tschetschenien halten an den alten Helden fest.

Nationalbewusstsein in einem Vielvölkerstaat

Tatsache ist, dass sowohl Scheich Mansur als auch Bajsangur von Benoj – wie viele andere Widerstandsführer – für den Kampf des tschetschenischen Volkes gegen die russische Expansion stehen. Ihre Namen wurden immer aufs Schild gehoben, wenn es darum ging, dem Russischen Reich, der Sowjetunion oder der Russischen Föderation die Stirn zu bieten. Gleichzeitig gelang es Moskau, das nationale Bewusstsein des Kaukasus mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass er Teil eines anderen Staates sei und sein müsse. Im heutigen Russland kommt dies auch im Begriff vom „multinationalen Volk“ zum Ausdruck und das Narrativ der „Völkerfreundschaft“ wird aktiv rekultiviert. Es befindet sich jedoch im gleichen Topf mit allen anderen offiziellen Narrativen – und sie passen nicht immer gut zusammen.

Moskau verhält sich jedoch sehr zuvorkommend gegenüber dem Kaukasus im Allgemeinen und Tschetschenien im Besonderen. Auch aus diesem Grund äußern sich die offiziellen Autoritäten nicht zu den Geschehnissen und die Unzufriedenheit der nationalistisch-patriotischen Meinungsführer in den sozialen Netzwerken lebt ein sehr kurzes Leben. Denn jeder ist sich des besonderen Status dieser Region und ihrer potenziellen Probleme bewusst.

All dies kann als Versuch gewertet werden, ein Narrativ für alle zusammenzubasteln, um eine Art übernationale Identität zu rechtfertigen. Bislang wurde der Weg der disproportionalen Unterstützung lokaler Forderungen und Traditionen gewählt, die im größeren russischen Narrativ möglich seien. Tschetschenien ist heute weit davon entfernt, gegen Russland aufzubegehren. Dafür ist es in so mancher Hinsicht ein Staat im Staate.

Filipp Fomitschow

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: