Neue alte Namen für Kirow, das früher Wjatka hieß

Die russische Großstadt Kirow ist 650 Jahre alt. Doch nicht von der eigenen Geschichte künden zahlreiche Straßennamen: Sie huldigen vielmehr der Sowjetzeit und ihrer Helden. Das soll sich ändern.

Der Fluss Wjatka war einst namensgebend für die Stadt, die an seinen Ufern erbaut wurde. Doch seit 90 Jahren heißt sie anders. (Foto: Tino Künzel)

Es ist in Russland nicht ohne, mit der sowjetischen Namensgebung zu brechen. Meist wird es gar nicht erst versucht, wovon Tausende Lenin­straßen, -prospekte und -plätze zwischen Murmansk und Wladiwostok zeugen. Als die Kleinstadt Tarussa in der Region Kaluga vor vier Jahren im gesamten Stadtzentrum zu den vorsowjetischen Straßen­namen zurückkehrte, sorgte das deshalb landesweit für Aufsehen. Und es war nicht von langer Dauer: Die Gegner verschafften sich in einflussreichen Kreisen Gehör, speziell die Kommunisten machten Stimmung gegen den Beschluss, den der Stadtrat schließlich nach anderthalb Jahren zurücknahm. Überdies verlor der Kreisvorsitzende seinen Posten.

Wie Wjatka zu Kirow wurde

Auch die Regionalhauptstadt Kirow 900 Kilometer nordöstlich von Moskau könnte geradezu als Paradebeispiel für den Umgang mit dem sowjetischen Erbe stehen. In diesem Jahr hat sie ihren 650. Stadtgeburtstag gefeiert. Doch trotz dieser Steilvorlage wurde ein naheliegendes Thema lieber kleingehalten. Kirow hieß nämlich bis 1934 Wjatka, nach dem Fluss, an dem die Stadt liegt und der zu den zehn größten im europäischen Teil Russlands gehört.

Zu ihrem heutigen Namen kam sie nach dem Mord an Sergej Kirow, einem hochrangigen Parteifunk­tionär. Stalin nahm dessen Tod zum Anlass, angebliche innere Feinde verfolgen und hinrichten zu lassen, während im gesamten Land Straßen, Plätze, Parks, Betriebe, Traktoren und Kulturhäuser nach Kirow benannt wurden, um sein Andenken zu verewigen. Nur vier Tage nach der Ermordung wachten die Bewohner von Wjatka in Kirow auf.

Stadtrat stimmt ab

Seit dem Untergang der Sowjet­union schien die Rückbenennung der Stadt nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch was in St. Petersburg (Leningrad), Jekaterinburg (Swerdlowsk), Samara (Kuibyschew), Nischni Nowgorod (Gorki) und Twer (Kalinin) längst vollzogen ist, verlief im Fall von Wjatka immer wieder im Sande. Umso erstaunlicher, dass in jüngster Zeit zumindest eine Diskussion über die Straßennamen im historischen Zen­trum zugelassen wird. Dort waren 1918 und 1923 Dutzende Bezeichnungen geändert worden. Nun soll der Stadtrat am 19. Dezember über eine Vorlage abstimmen, die zumindest teilweise die toponymischen Verhältnisse vor der Oktoberrevolution wiederherstellen würde. Und es deutet viel darauf hin, dass sie angenommen wird.

Maßgebliche Vertreter der Stadt und eine städtische Fachkommis­sion haben sich bereits für die Initiative ausgesprochen. Auch bei der öffentlichen Meinung zeichnete sich eine klare Tendenz ab. Rund 21.000 Menschen sollen entsprechende Fragebögen ausgefüllt und die Umbenennung von neun Straßen mehrheitlich befürwortet haben. Bei sieben davon handelt es sich um Rückbenennungen.

Auch Marx soll weichen

Betroffen sind Straßen, die etwa nach den russischen Revolutionären Wolodarski und Urizki benannt sind, die nach der Oktoberrevolu­tion leitende Ämter im neuen Staat bekleideten und 1918 Anschlägen zum Opfer fielen. Aber auch Ausländer, auf die sich die sowjetische Ideologie gern berief, sollen als Namensgeber ausgedient haben. Dazu zählen Karl Marx, dessen Namen eine der wichtigsten und längsten Straßen in der Altstadt trägt, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Die alten Straßennamen, über deren Renaissance entschieden wird, nehmen Bezug auf örtliche Gegebenheiten. Wenn der Stadtrat grünes Licht gibt, hat Kirow bald wieder eine Wladimir-, eine Morosow- und eine Nikita-Straße. Bereits 2012 hatten die damaligen Abgeordneten die Umbenennung von vier Straßen abgesegnet. Unter anderem wurde die Bolschewiken- zur Kasaner Straße, die Friedrich-Engels- zur Verklärungs-Straße und die Drelewski- zur Spasskaja-, also Erlöserstraße. Bis heute unangetastet: die zentrale Leninstraße. Und der sowjetische Name der Stadt.

Mehrheitlich beschlossen

Hier endet der Artikel, der in der letzten MDZ-Ausgabe des Jahres 2024 erschien. Bereits nach Redaktionsschluss votierte der Stadtrat wie erwartet mehrheitlich für die Umbennenung von sieben Straßen. Eine Entscheidung über die Änderung zweier weiterer sowjetischer Straßennamen soll erst im nächsten Jahr getroffenen werden. In ihrem Fall fiel die Mehrheit bei der Volksbefragung – auf den Fragebögen konnte über die betreffenden Straßen einzeln abgestimmt werden – nach offiziellen Angaben relativ knapp aus. Vor allem die zur Wahl stehenden alten Namen sagten offenbar vielen nicht zu.

Der Stadtduma gehören 36 Abgeordnete an. Die weitaus meistens (23) stellt die Fraktion der Regierungspartei „Einiges Russland“. Gegen den Vorschlag stimmten die zwei kommunistischen Abgeordneten. KPRF-Chef Gennadi Sjuganow, gleichzeitig Fraktionsführer der Kommunisten in der Staatsduma, hatte in einem sogenannten Regierungstelegramm an Bürgermeisterin Jelena Kowaljowa sein „äußerstes Unverständnis“ für die Initiative zum Ausdruck gebracht. Sie sei darauf gerichtet, die Spaltung in der russischen Gesellschaft zu verstärken. Vor dem Hintergrund äußerer Bedrohungen sei das „besonders gefährlich“.

„Destruktive Handlungen“

Sjuganow schreibt, die „militärische Sonderoperation“ und die „Notwendigkeit zur Denazifizierung der Ukraine“ seien „unmittelbar verbunden mit der langjährigen Attacke auf das historische Bewusstsein des Brudervolkes“. Für die „Faschisierung“ der ukrainischen Gesellschaft sei die Kombination aus „aggressiver Russophobie und Antisowjetismus“ charakteristisch.

Die sowjetischen Straßennamen verdanke Kirow einer Generation, die den Faschismus besiegt und sich weitere Verdienste um das Land erworben habe, so Sjuganow. Deshalb rate man nachdrücklich, die „destruktiven Handlungen“ zur Umbenennung einzustellen. In der den Kommunisten nahestehenden Internetzeitung „Krasnaja Wessna“ (Roter Frühling) wurde ein Beitrag zum Thema mit einem Foto „ukrainischer Nazisten“ bebildert.

Tino Künzel

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