Tarussa: Wenn Lenin auf dem Kirchplatz steht

Tarussa ist ein kleines Städtchen in der Region Kaluga und ein bekannter Rückzugsort für Moskauer Intellektuelle. Mitten durch diese Landoase verläuft nun eine Frontlinie. Denn neulich wurden dort auf einen Schlag 16 Straßen umbenannt, auch die Leninstraße und der Leninplatz. Für Russland ein unerhörter Vorgang, der die Gemüter erhitzt.

Blick über Tarussa. Unten die Peter-und-Paul-Kirche. Die lange Straße von der Bildmitte bis zum Horizont ist die frühere Lenin- und heutige Kalugaer Straße. (Foto: LenskiyS/Wikimedia Commons)

Die Oktoberrevolution von Tarussa – oder Konterrevolution, je nachdem – begann damit, dass die Abgeordneten des Stadtrats am 20. Oktober mehrheitlich beschlossen, die Umbenennung von Straßen zu Sowjetzeiten rückgängig zu machen. Betroffen ist praktisch der gesamte Ortskern der Stadt mit ihren gut 9000 Einwohnern. 16 Straßen erhielten ihre historischen Namen zurück, soweit das möglich war und angemessen erschien.

Seitdem heißt beispielsweise der Platz vor der Peter-und-Paul-Kathedrale von 1790 nicht mehr Leninplatz, sondern Kirchplatz, was ja irgendwie auch Sinn ergibt. Eine spezielle Pointe darf dabei nicht fehlen: Wie jede russische Stadt hat natürlich auch Tarussa sein Lenin-Denkmal, es wurde 1962 errichtet. Und wie überall steht es an prominenter Stelle mitten im Zentrum, nämlich auf dem Leninplatz, pardon – dem Kirchplatz. Den Säulenheilige der Sowjetunion, in der die Kirche verfolgt wurde, bringt das in eine durchaus pikante Lage. Doch derartige Dialektik ist gar nicht so neu für Russland, wo man einerseits gern von den guten, alten Sowjetzeiten schwärmt, als Priester Glück hatten, wenn sie nicht im Lager landeten, und Kirchen Glück hatten, wenn sie nicht abgerissen, sondern nur zu Wohnheimen, Kinos oder Lagern umfunktioniert wurden, und wo man andererseits heute in die Kirche geht. Kann ja nichts schaden, zweigleisig zu fahren. Vielleicht hätte auch Lenin, wäre er nicht etwas zu früh verstorben, nach dem Ableben der Sowjetunion in seinem Herzen noch Platz entdeckt für eine zweite Heilslehre neben dem Kommunismus, wie so viele Parteikader von gestern.

Das Lenin-Denkmal von Tarussa auf dem Platz vor der Peter-und-Paul-Kathedrale (Foto: Tino Künzel)

Yandex hat schon reagiert

Aber zurück zur Umbenennung der umbenannten Straßen. Lenin auf seinem Sockel blickt vom Kirchplatz jetzt nicht mehr auf die Leninstraße, sondern die Kalugaer Straße. Auch Karl Marx und Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, diverse Sowjetführer und Revolutionäre sowie die Pioniere, der Komsomol, der Oktober und die Dekabristen sind im Straßenverzeichnis nicht länger vertreten. Yandex verwendet auf seinen Karten bereits die neuen, alten Namen. Auch der (russische) Eintrag von Tarussa bei Wikipedia berücksichtigt die jüngsten Entwicklungen.

Für Russland ist die Initiative zweifellos ein Paukenschlag und hat ein breites überregionales Echo hervorgerufen. Zuletzt wurden die Toponyme im Land vor drei Jahrzehnten einer größeren Revision unterzogen und sogar ganze Städte um- beziehungsweise rückbenannt wurden. So ist seit 1991 Leningrad wieder St. Petersburg und Swerdlowsk wieder Jekaterinburg. Doch schon damals ließ man Konsequenz vermissen. Die an beide Städte angrenzenden Regionen blieben auch weiter nach Lenin (Leningrader Region) und Swerdlow (Region Swerdlowsk) benannt.

Was die Straßennamen in den Städten betrifft, so folgen sie bis heute einen sowjetischen Heldenkanon aus den 20er bis 50er Jahren, der ausnahmslos allen Orten übergestülpt wurde und lokale Bezüge verdrängte. Dabei wäre davon auszugehen, dass die allgegenwärtigen Kirows, Kalinins oder Frunses, an deren Verdienste das Volk einst auf Schritt und Tritt erinnert werden sollte, im Russland der Gegenwart zumindest einer differenzierten Betrachtung unterliegen und keiner Lobpreisung. Im Bewusstsein der großen Mehrheit der Bevölkerung spielen sie auch keine Rolle, schon gar nicht als Vorbilder.

Eine Leninstraße von über 5000 weniger

Ihre unverändert überwältigende Präsenz in dieser Ruhmeshalle unter freiem Himmel ist umso kurioser, als sie die jeweilige politische Konjunktur einer längst vergangenen Zeit widerspiegelt. So weist Yandex landesweit allein 5459 Leninstraßen aus – und null Trotzkistraßen, obwohl Leo Trotzki doch der engste Mitstreiter Lenins war, einer der wichtigsten Köpfe der jungen Sowjetmacht, Außenminister der ersten sowjetrussischen Regierung. Weil er aber später nach innerparteilichen Grabenkämpfen in Ungnade fiel, des Landes verwiesen und sogar ermordet wurde, war er zu Hause fortan geächtet. Gleiches galt für Bucharin, Sinowjew und Kamenew, die zum inneren Zirkel der Macht gehörten, aber in den 30er Jahren als Abweichler und Verschwörer erschossen wurden. Und so reflektieren die Straßennamen noch im Jahr 2020 zum größten Teil den Stand der Dinge in der Stalinzeit. Ironie der Geschichte: Stalins Name wurde nach seinem Tod und der Verurteilung des Personenkults um ihn aus dem öffentlichen Raum verbannt.

Eine ernsthafte Diskus­sion über diese Form der Erinnerungskultur hat nie stattgefunden. Wo immer sie aufflammte, wurde sie schnell im Keim erstickt. Die Argumente waren dabei immer dieselben: 1. Wir haben andere Sorgen. 2. Das ist nun mal unsere Geschichte. 3. Warum ohne Not etwas ändern, woran sich nie jemand gestört hat? 4. Was das wieder kostet!

Holzhaus in Tarussa (Foto: Tino Künzel)

Nun schlagen die Wellen hoch. Den Stadtoberen von Tarussa wird einerseits Beifall aus ganz Russland zuteil, andererseits laufen vor allem die Kommunisten Sturm. „Eine größere Schweinerei“ könne man sich kaum vorstellen, entrüstete sich KPRF-Chef Gennadij Sjuganow und verglich die Verantwortlichen mit „Bandera-Anhängern, Nazisten und Faschisten“. In Tarussa selbst scheinen die Meinungen geteilt. Die Befürworter sagen, der Schritt sei überfällig gewesen und entspreche dem Willen der Mehrheit. Seit Jahren seien immer wieder entsprechende Bitten an die Stadtverwaltung herangetragen worden. Auch die Gegner – sie sind in diesen Tagen besonders vernehmbar – reklamieren die Mehrheit für sich. Sie schimpfen, keiner habe sie gefragt, ob sie künftig auf der Gemüsegarten-Straße (statt der Pionierstraße), der Ziegelstraße (statt Lunatscharskij-Straße) oder der Sägewerk-Straße (statt der Urizkij-Straße) wohnen wollten. Zumal es das Ziegelwerk und das Sägewerk schon längst nicht mehr gebe. 622 Ortsansässige haben einen Brief an Präsident Putin unterzeichnet, er möge ein Machtwort sprechen.

Nicht gegen die Sowjetunion, sondern für Tarussa

Nun könnten die Entscheidungsträger darauf verweisen, dass Tarussa eine mehr als 750-jährige Geschichte hat, weshalb 70 Jahre Sowjetunion nur eine Episode darstellten, die nicht die gesamte Namensgebung für sich beanspruchen kann. Doch als Antwort auf den heftigen Gegenwind versuchten sie vor allem dem Eindruck entgegenzutreten, toponymisch mit der sowjetischen Vergangenheit abzurechnen, wie das davor etwa im Baltikum und zuletzt in der Ukraine geschehen war. Vielmehr solle die eigene Identität gestärkt werden. Stadtmarketing sozusagen.  „Unsere Kinder sollen in einer authentischen Umgebung aufwachsen“, sagte die Vorsitzende der Stadtverwaltung und des Stadtrats, Jelena Kotowa, der Zeitung „Argumenty i Fakty“. Und: Die Umbennung koste die Stadt keinen Rubel, sondern werde von Unterstützern finanziert.

Um die Unzufriedenen zu beschwichtigen, kommen nun aber auch die sowjetischen Namen mit auf die Straßenschilder. Und das Lenin-Denkmal soll als „Kulturerbe“ anerkannt werden.

Tino Künzel

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