Ein Traum von einer Stadt

Moskau war für Knut Hamsun (1859-1952) nur eine kurze Zwischenstation, als der norwegische Schriftsteller 1899 von Helsinki in Richtung Kaukasus einmal quer durch Russland reiste. Doch in seinem Buch „Im Märchenland“ hat der spätere Literaturnobelpreisträger – und noch spätere Bewunderer der Nationalsozialisten – seine Eindrücke von der Stadt in warmen Worten festgehalten. Einige Auszüge daraus.

Die Moskauer Warwarka-Straße vis-à-vis des Kremls auf einer Postkarte aus der Zeit um 1900 (Foto: pastvu.com/1801680)

Ich bin in vier von fünf Teilen der Welt gewesen. Nicht, dass ich sie ausgiebig bereist hätte (und bis nach Australien bin ich überhaupt noch nicht gekommen). Doch immerhin habe ich meinen Fuß auf den Boden aller möglichen Länder gesetzt und einiges gesehen – allerdings nichts, was mit dem Moskauer Kreml vergleichbar wäre. Ich habe wunderbare Städte kennengelernt, Prag und Budapest haben mich zutiefst beeindruckt. Aber Moskau hat etwas Märchenhaftes an sich. Übrigens ist mir aufgefallen, dass die Russen nicht „Moskwa“ sagen, sondern „Maskwa“. Wie es richtig ist, weiß ich nicht. […]

In Moskau gibt es etwa 450 Kirchen und Kapellen. Wenn ihre Glocken zu läuten beginnen, dann erzittert die Luft in dieser Millionenstadt von der Vielstimmigkeit des Klangs. Der Kreml bietet einen Ausblick auf ein Meer aus Schönheit. Ich hätte nie gedacht, dass auf der Erde eine solche Stadt existiert: Moskau ist erfüllt von grünen, roten und goldfarbenen Kuppeln und Spitzen. Vor dieser Masse an Gold in Verbindung mit dem tiefblauen Himmel verblasst alles, wovon ich jemals geträumt habe. Wir stehen vor dem Denkmal für Alexander II. (Anm. d. Red.: Das Denkmal für den bei einem Attentat getöteten Zaren wurde 1898 an einem Abhang des Kremls über der Moskwa eingeweiht. Die Bolschewiken ließen es nach ihrer Machtergreifung abreißen.) Wir stützen uns auf das Geländer und können unseren Blick nicht losreißen von dem Bild, das vor uns liegt. Hier braucht es keine Worte, unsere Augen werden feucht. […]

Wir besichtigen auch das Puschkin-Denkmal und besuchen einige Kirchen und Paläste, die Facettenkammer, Museen und die Tretjakow-Galerie. Auch den Glockenturm Iwans des Großen mit seinen 450 Stufen besteigen wir, um von dort Moskau zu bestaunen. Nur so kann man wirklich jene großartige Szenerie genießen, die diese beispiellose Stadt darstellt. […]

An der Tür meines Hotels bemerke ich auf einmal, dass sich ein Knopf meiner grünen Jacke gelockert hat. „Das ist der wichtigste Knopf“, denke ich mir und will den Faden festziehen, mache aber alles nur noch schlimmer. Ich erinnere mich, dass ich Nähzeug dabei habe, aber in welchem meiner Koffer es sich wohl befindet? Mit einem Wort, ich mache mich auf den Weg in die Stadt, um einen Schneider zu suchen. […]

Vor einem Haus steht eine alte Frau. Ich will an ihr vorbeigehen, als sie mich anspricht, sich verbeugt und auf meinen Knopf zeigt, der nur noch an einem Faden hängt. Ich nicke und versuche ihr gestenreich zu erklären: Genau, der Knopf kann jeden Moment abreißen, deshalb brauche ich einen Schneider. Die Frau verbeugt sich ein weiteres Mal, läuft los und zeigt irgendwohin. Nach ein paar Minuten bleibt sie vor einem Haus stehen und weist nach oben. […]

Als der Knopf wieder sitzt, frage ich: „Wie viel?“ Der Schneider antwortet etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Ich kenne den Trick der Schneider: Wenn du sie fragst, was es kostet, einen Knopf anzunähen, dann antworten sie für gewöhnlich: „nicht der Rede wert“ oder „so viel Sie geben wollen“. Das genau ist der Trick. Wenn ich den Preis selbst festzulegen habe, dann kann es teuer werden. Schließlich will man als Graf durchgehen und auf keinen Fall knauserig sein.

Der Schneider könnte einfach offen und ehrlich für seine Arbeit 25 Øre verlangen. Wenn ich den Preis bestimme, dann muss ich 50 geben. Es erweist sich, dass auch der russische Schneider den Trick kennt. Er steht vor mir und sagt etwas, aus dem ich folgere, dass er mir überlässt, was ich zahle. Aber woher soll ich wissen, wie die Preise in Russland sind? Das hat er nicht bedacht.

Ich zeige auf mich und sage: „Ausländer“. Er lacht, nickt und antwortet etwas. Ich wiederhole, dass ich ein Ausländer bin. Und wieder sagt er etwas, doch das Wort „Kopeke“ kommt darin nicht vor. So bin ich also wieder gezwungen, ein Graf zu sein. Da wünscht man sich nun stets, bescheiden und unauffällig zu reisen, aber daraus wird nichts.

Zurück auf der Straße, beschließe ich, die Pferdebahn zurück zum Hotel zu nehmen. Nach einiger Zeit tritt der Kontrolleur an mich heran und sagt etwas. Wahrscheinlich will er wissen, wohin ich fahre, denke ich mir und nenne ihm mein Hotel. Augenblicklich schauen sämtliche Mitfahrenden im Waggon zu mir herüber und reden auf mich ein, während der Kontrolleur nach hinten, weit nach hinten deutet und mir zu verstehen gibt, dass ich in die genau entgegengesetzte Richtung unterwegs bin und sich mein Hotel ganz woanders befindet. So muss ich also aus der Bahn springen. […]

Nun weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich bin und wohin ich gehen muss, um zum Hotel zu gelangen. Es ist ein unvergleichliches Gefühl, sich verlaufen zu haben: Wem das noch nicht passiert ist, der kann es auch nicht verstehen. Ich verlaufe mich absichtlich. Am Eingang zu einem Restaurant überkommt mich plötzlich der Wunsch, etwas zu essen und auch dabei ganz spontan zu handeln. Doch ich finde es zu nobel, zumal ein blonder Diener im Frack sofort zur Stelle ist. Da scheint mir ein anderes Restaurant, an dem ich vorher vorbeigelaufen bin, sympathischer zu sein. Dort mache ich es mir dann bequem. […]

Ich habe gelernt, das Wort „Schtschi“ auszusprechen, was nicht viele von sich behaupten können. Schtschi ist eine fleischhaltige Suppe, aber keine gewöhnliche Rindfleischsuppe, sondern ein ausgezeichnetes russisches Gericht mit Fleisch, Ei, saurer Sahne und Kohl. Ich bestelle Schtschi. Aber die Bedienung kommt meinen Wünschen zuvor und tischt noch weitere Speisen auf. […] 

Die Besucher kommen und gehen. Auch eine Gruppe von Deutschen taucht auf und nimmt am Nachbartisch Platz. Fortan erklingen von dort lautes deutsches Geschwätz und deutsche Ausrufe. Nach dem Essen und Trinken zu urteilen, das ihnen serviert wird, wollen sie lange bleiben. Ich gebe der Bedienung ein Zeichen, man möge doch bitte einen Tisch weiter hinten für mich decken, wo sich ein kleiner Garten und Bäume befinden, aber er versteht mich nicht. Da fragt mich einer der Deutschen freundlicherweise nach meinem Begehr und ich nehme seine Hilfe in Anspruch. […]

Der Diener serviert mir das Hauptgericht. Aber nach den kräftigen Schtschi kann ich nichts mehr essen, wobei der Diener natürlich recht hat: Der Mensch soll einmal richtig reinhauen, dann kann er es später länger ohne Essen aushalten. Ich möchte rauchen und ein Tässchen Kaffee trinken und man bringt mir umstandslos Zigarren und Kaffee. […]

Ich sitze da und fühle mich wie zu Hause, obwohl ich ja weit weg von zu Hause bin, aber eben in meinem Element. Für mich ist dies das gemütlichste Restaurant, in dem ich jemals gewesen bin. Wie aus heiterem Himmel stehe ich auf und gehe zu einer Ikone, um mich dort zu verneigen und zu bekreuzigen wie andere auch. Weder die Bedienung noch die Besucher beachten mich und ich geniere mich überhaupt nicht, als ich zu meinem Platz zurückkehre. Mich erfüllt ein Gefühl der Freude beim Gedanken daran, dass ich mich in diesem großen Land befinde, über das ich so viel gelesen habe, und das Gefühl führt zu einer Art innerer Ausgelassenheit, die ich in diesem Moment auch gar nicht zu unterdrücken versuche. Ich fange an, vor mich hinzusingen, ohne irgendwen damit behelligen zu wollen, sondern einfach weil es mir Vergnügen bereitet. […]

Dem Kutscher sage ich: „Bahnhof“. Aber in Moskau gibt es fünf Bahnhöfe und der Kutscher fragt zurück: „Welcher?“ Ich tue so, als könnte es mir noch einfallen. Da fängt er an, die Bahnhöfe aufzuzählen. Als der Rjasaner Bahnhof (später in Kasaner Bahnhof umbenannt – d. Red.) an der Reihe ist, unterbreche ich ihn und gebe ihm zu verstehen, dass ich dorthin muss. Wir fahren los und der Kutscher bekreuzigt sich vor jeder Kirche und jeder an den Toren angebrachten Ikone, die wir unterwegs passieren.

Übersetzung aus dem Russischen: Tino Künzel  

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