Noch scheinen die Russen nicht so richtig warm zu werden mit dem Fahrrad. Zwar können sich beinahe alle auf einem Drahtesel halten, ohne umzukippen, doch nur knapp jeder Vierte tritt auch regelmäßig in die Pedale. Der Ausbau von Radwegen in den Metropolen Moskau und St. Petersburg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch ein weiter Weg bis zu einer Fahrradkultur wie in Westeuropa ist.
Und Fahrradtourismus ist nahezu unbekannt. Radfernwege gibt es im Land so gut wie gar keine. Wer das Land mit dem Fahrrad erkunden will, muss auf wenig befahrene Straßen oder Feld- und Waldwege ausweichen, wo es meist wenig zu sehen gibt. Um das zu ändern, hat das Projekt „Let’s bike it“ im September eine Fahrrad-Expedition von Moskau nach St. Petersburg organisiert.
Jahrelanger Einsatz für die Fahrradkultur
Seit zehn Jahren setzt sich „Let’s bike it“ für eine Fahrradkultur in Moskau ein. Dafür organisieren die Mitglieder Fahrradparaden, Kongresse und die Aktion „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“, an der mittlerweile mehr als 400 Unternehmen teilnehmen.
Für „Let’s bike it“-Gründer Wladimir Kumow war die Tour nach St. Petersburg aber eine besondere Herausforderung. Innerhalb kürzester Zeit musste er ein vielfältiges Team sammeln. Und die Teilnehmer sollten möglichst verschiedene Fahrradtypen mitbringen, darunter auch solche, die eigentlich für die Stadt gedacht sind. Schließlich soll der Trip für jeden machbar sein, Profis wie Anfänger.
Herausgekommen ist eine bunte Truppe aus einem jungen Paar, einem Rechtsanwalt, einem Architekten, einer Bloggerin, einem Kameramann und einem Moderator. Unterwegs erhielt die zwölfköpfige Gruppe sogar noch Verstärkung. Etwa von Ksenija aus Welikij Nowgorod, die ohne Vorerfahrung mit nach St. Petersburg radelte.
Für den Weg von Moskau nach Norden brauchte die Gruppe 16 Tage. Ziel war es, jeden Tag zwischen 50 bis 60 Kilometer zu schaffen, 1100 insgesamt. Der, nicht wirklich direkte, Weg führte über Konakowo nach Twer, weiter nach Torschok und Kuwschinowo zu den beiden Seen Sig und Seliger. Weiter ging es die schönen Kleinstädte Demjansk, Staraja Russa und Schimsk bis nach Welikij Nowgorod. Über Gattschina erreichte die Gruppe schließlich das Ziel, St. Petersburg.
Übernachtet wurde an Orten, die man fand. Manchmal war es das einzige Gästehaus im Dorf mit sowjetischer Atmosphäre. Ein anderes Mal landeten die Teilnehmer auf einem Glamping-Platz (die Luxusvariante des Camping) und wurden dort zum Saisonabschlussfest eingeladen.
Eine Strecke voller Kontraste und Entdeckungen
Die Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg ist voller Kontraste. An einigen bekannten Orten wurde die Gruppe enttäuscht, um dann wiederum kurz darauf auf Unerwartetes zu stoßen.
Rechtsanwalt Alexander ist vor allem der Ilmensee in Erinnerung geblieben. Der sei wie das Meer, das er während der Selbs-
tisolation vermisst hatte. Auch eine Siedlung, in der fast jeder mit dem Fahrrad unterwegs ist, hat ihn erstaunt. Einen schönen Augenblick erlebte die Gruppe auch in einem Dorf, in dem die Einheimischen auf einem Klavier auf dem Marktplatz Lieder der Beatles und der Scorpions zum Besten gaben. Überhaupt habe man im Gespräch mit den Einheimischen viele neue Orte entdeckt, meint Alexander.
In den Plänen von „Let’s bike it“ soll die Route in Zukunft von Stadt zu Stadt und von Attraktion zu Attraktion führen. Schließlich freuen sich die Radfahrer über Unterhaltung am Wegesrand. Noch aber gibt es große Abschnitte, in denen es nichts gibt. Damit sich das ändert, hat sich das Team potenzielle Orte markiert. Auf Feldern könne man Musikfestivals oder Jahrmärkte organisieren, in leer stehenden Gebäuden Museen oder Kunstobjekte einrichten, meint Kumow.
Um solche Orte ausfindig zu machen und auch andere Informationen wie den Straßenzustand zu teilen, hat „Let’s bike it“ einen Telegram-Bot eingerichtet. Jeder Teilnehmer konnte seine Informationen dort einfach einschicken. Trotz einiger Verbindungsprobleme auf dem Land kamen am Ende der Tour 2000 Meldungen zusammen. Sie alle fließen in den zukünftigen Fahrradmasterplan und die Homepage ein. Für weitere Vorschläge ist das Projekt offen.
Tour hat bei vielen Teilnehmern Lust auf Mehr geweckt
Für die Teilnehmer war die Tour von Moskau nach St. Petersburg ein echtes Abenteuer. Im Gespräch mit der MDZ berichten einige, dass sich ihr Leben nach dieser Erfahrung komplett verändert hat. Sie arbeiten mittlerweile an der Entwicklung des Fahrradmasterplans zwischen Moskau und St. Petersburg oder suchen mit dem Fahrrad nach Neben- und Umwegen. Andere haben Lust auf mehr bekommen und planen gemeinsam neue Fahrradtouren, die eine Herausforderung seien sollen.
Was sie alle eint, ist die Begeisterung für Fahrrad-Expeditionen. Dabei geht es nicht so sehr um die Sehenswürdigkeiten, von denen es viele gibt. Hängen bleiben die Menschen, die sie unterwegs getroffen haben und Gespräche, die wohl die meisten so nie geführt hätten. So ist eine Fahrradtour durch Russland nicht nur eine gute Möglichkeit, das Land intensiv kennenzulernen, sondern vor allem auch seine Menschen.
Maria Bolschakowa