Georgi Kiesewalter
Geboren 1955 in Moskau. Vertreter des Moskauer Konzeptualismus, einer der Gründer und Mitglied der Künstlergruppe „Kollektive Aktionen“. Autor von Büchern und Alben über die moderne Kunst. Die Arbeiten Kiesewalters befinden sich u. a. in den Sammlungen der Tretjakow-Galerie, des MMOMA, des Museums für Moderne Kunst „Garage“, im Centre Pompidou in Frankreich und im Zimmerli Art Museum (USA).
Ist die Kunst zu Ende?
Das Leitmotiv einer Ihrer kürzlichen Ausstellungen war der Satz „Die Kunst ist zu Ende, es sind nur Dokumente übrig geblieben.“ Ist das eine Provokation oder ist das Ihre Überzeugung?
Wahrscheinlich kommen alle, die sich in der Kunst tummeln, in irgendeinem Moment zu der Meinung, dass alles zu Ende sei. Aber dann vergeht ein halbes oder ein ganzes Jahr und sie sehen, es gibt noch etwas, mit dem man arbeiten kann. Das ist ein unaufhörlicher Prozess. Ich besuche jetzt oft Ausstellungen moderner Kunst. Ich sehe da manchmal irgendwelche Häschen und Kätzchen. Das ist Darstellung, keine Kunst. Ich gehe niedergeschlagen weg. Aber irgendjemandem gefällt das. Vielleicht ist die Kunst auch deshalb gut, weil sie vielfältig ist. Niemand weiß, wie sie sich entwickeln wird. Es gibt die Befürchtung, dass der Maler durch künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Aber das Schöpfertum verschwindet bestimmt nicht.
In der jetzigen Ausstellung beziehen Sie sich auf Roland Barthes, der bekräftigt, dass „die Kunst in der Überschneidung der Sprachen geboren wird“ und Sie verbinden Motive der sowjetischen Ideologie mit Ideen des Modernismus. So als wollten Sie sagen: Ars longa, man kann immer mit den Sprachen und Symbolen spielen, wie mit Glasperlen.
Jeder Künstler hat seine eigene Herangehensweise. Manch einer will jahrelang den Farbton herausholen, um den Sonnenuntergang genau wiederzugeben. Für mich ist wichtig, dass an den Überschneidungen der Sprachen andere Lesarten entstehen. Ich als Künstler gebe sie wieder, der Betrachter soll sie verstehen. Gibt es keinen Betrachter, gibt es auch keine Kunst. Es macht mich betroffen, wenn der Betrachter die Vielschichtigkeit der Gedanken nicht sieht.
Die Kunstwissenschaftlerin Irina Antonowa hat mal den Konzeptualismus als „einschichtige Einwegkunst“ bezeichnet: Der Betrachter erkennt den Sinn und kommt nicht wieder. Betrifft das auch Ihre Bilder?
Malerei – das ist ein Text. Ihn muss man lesen. Du kommst ins Museum, schaust die Arbeiten der alten Meister an und findest für dich selbst viele interessante Dinge. Es gibt herausragende moderne Meister, die man kennen sollte.
Moderne russische Kunst
Welchen der modernen russischen Maler sollte man kennen?
Ich würde den unlängst verstorbenen Ilja Kabakow nennen. Er war lange Zeit mein geistiger Lehrer. In seinen Arbeiten gibt es immer Momente, die verwundern. Iwan Tschuikow, Erik Bulatow. Aus meiner Generation Irina Nachowa. Unsere Gruppe „Kollektive Aktionen“ war in den 1970er Jahren eine interessante Sache.
Sie haben schon damals an Ausstellungen in Paris und London, an der Biennale in Venedig teilgenommen. Wie ging das?
Das waren Fenster, die sich hin und wieder dank westlicher Journalisten und in die UdSSR reisender Slawisten öffneten. Sie sammelten interessante kleine Arbeiten ein und führten sie mit der Diplomatenpost aus. Unsere Gruppe verfügte über die Beschreibung solcher Aktionen und Fotos.
Wie nahe sind Ihnen heute noch die Ideen der „Kollektiven Aktionen“?
Ich bin noch der Atmosphäre, die damals herrschte, verhaftet. Wir waren Gleichgesinnte, es war angenehm, miteinander zu kommunizieren. Wir trafen uns beinahe täglich, sind oft zusammen verreist. Mit dem Beginn der Perestroika fiel alles auseinander. Da haben alle verstanden, dass es kein kollektives Lob geben wird. Um seine Arbeiten zu verkaufen, sie auf Ausstellungen im Ausland zu bringen, musste man selbst Möglichkeiten suchen. Und alle rannten los, jeder in seine Richtung.
Eigene Migrationserfahrung
Sie sind in den 1990er nach Kanada ausgereist. Warum nicht nach Deutschland, wie so viele Russlanddeutsche?
Mein Englisch ist viel besser als mein Deutsch, deshalb hatte ich englischsprachige Länder im Auge. Ich wollte mir beweisen, dass ich noch zu etwas fähig bin. Die 1990er machten mich mit ihrer Atmosphäre des Zerfalls traurig. Das waren depressive Jahre. Für mich war es hier nicht interessant.
Warum sind Sie 2006 zurückgekehrt?
Ich habe in einer Provinzstadt in Kanada Arbeit gefunden. Dort war es etwas langweilig. Ich wandte mich einmal mit dem Vorschlag, eine eigene Ausstellung zu organisieren, an eine Galerie. Aber sie haben meine Idee nicht gewürdigt. Und ich habe verstanden, dass ich diese Idee nur in Russland umsetzen kann.
In den 1970ern riss man sich im Westen um die sowjetischen Nonkonformisten. Dann sind sie uninteressant geworden. Was war der Grund dafür?
Das war oft für den westlichen Betrachter unverständlich. Das konnten sie nicht verdauen.
Inwieweit ist Ihr jetziges Projekt verdaulich? Ist die Überschneidung sowjetischer Ideologie mit der Avantgarde dem westlichen Ausstellungsbesucher verständlich?
Wahrscheinlich kann das bei entsprechender Präsentation interessant sein. Sogar die Ausstellungen Kabakows fanden nicht immer ein positives Echo im Westen, weil er für dort etwas schwer zu verstehen war. Wie soll das aber vorgestellt werden? Vorkauen? Soll ich schreiben, dass ich hier Helden des sozialistischen Realismus zeige und im Hintergrund die abstrakte Kunst oder die Avantgarde, die zu dieser Zeit existierten? Verstehen die westlichen Betrachter, dass im Hintergrund Kandinsky gemeint wird? Rothko? Malewitsch? Mir scheint, dass in den letzten Jahren im Westen das Interesse an der sowjetischen Kunst verschwunden ist. Das ist das Los der Sammler. Es ist uns wohl nicht gelungen, die Welt zu erobern. Deshalb sind viele von denen, die in den 1990ern ausgereist sind, später zurückgekehrt.
Russische Kunst in der derzeitigen Situation
Macht sich der Westen jetzt mit unserer Kunst bekannt?
Man schaut sehr aufmerksam auf unsere jungen Meister. Und manch einer wird eingeladen. Leider haben wir fast keine Galerien, die unsere Maler im Westen bekannt machen könnten. Früher haben wir an Ausstellungen teilgenommen, jetzt nicht. Selbst die Rigaer Biennale, die im August eröffnet werden sollte, blieb geschlossen. Alle sind bedrückt. Aber wir hoffen, dass diese Periode irgendwann einmal zu Ende gehen wird.
Würden Sie jetzt das Land verlassen?
In der derzeitigen Situation habe ich daran gedacht. Aber in Kanada wartet niemand auf mich. Mein Sohn und mein Enkel leben in Deutschland. Dort habe ich an einigen Ausstellungen teilgenommen. Ich würde sagen, die Reaktion war unverständlich. Wir bleiben trotz allem im Geist Russen. Unser Betrachter lebt hier. Ich denke, hier kann man noch arbeiten und neue Themen finden. Ich bin immer der Meinung gewesen, wenn ein Künstler sich nicht entwickelt, dann stirbt er.
Das Gespräch führte Olga Silantjewa.