Jörn Haese will russischen Studenten zu ihrem Recht verhelfen

Viele Deutsche, die in Russland leben, lassen das Land nur bedingt an sich heran. Sie wohnen gesondert, verdienen gesondert und haben Alltagssorgen, die sie eher mit anderen Expats als mit den Einheimischen teilen. Und dann ist da Jörn Haese. Nicht genug damit, dass der 48-jährige Randberliner seit 2014 an einer russischen Provinz-Uni studiert, er setzt sich auch allen Freuden und Leiden des Studentenlebens po-russki aus. Kein anderes Interview in der MDZ hat dieses Jahr solche Wellen geschlagen wie das vom Februar mit Haese. Wie ist es ihm seitdem ergangen?

Jörn Haese in einem Beitrag des TV-Senders „Doschd“. (Screenshot)

Herr Haese, lassen Sie uns das kurz rekapitulieren: Sie haben an der Universität von Orjol zunächst Wirtschaft und später Fremdsprachen studiert und sich immer wieder mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen zu Wort gemeldet, von den Lehrplänen bis hin zu den Zuständen im Wohnheim. Im Sommer 2017 hat die Uni Sie mit einer formalen Begründung vor die Tür gesetzt. Sie mussten innerhalb von drei Tagen das Land verlassen, haben sich jedoch vor einem lokalen Gericht erfolgreich ins Studium zurückgeklagt. Jetzt sind Sie also wieder ein ordentlicher Student an alter Wirkungsstätte?

Seit September studiere ich Englisch und Französisch im zweiten Studienjahr. Aber es war eine Achterbahnfahrt. Nicht nur habe ich zahlreiche unruhige Nächte gehabt, sondern auch ein ganzes Studienjahr verloren. Die 20.000 Rubel Schmerzensgeld (umgerechnet knapp 270 Euro), die mir das Gericht zugesprochen hat, tragen dem kaum Rechnung. Wir hatten 100.000 Rubel beantragt.

Sind inzwischen alle Streitigkeiten beigelegt?

Die Uni hat bei mir 80.000 Rubel (reichlich 1000 Euro) an Studiengebühr für das vergangene Studien­jahr geltend zu machen versucht, obwohl ich durch ihr eigenes Verschulden überhaupt nicht anwesend sein konnte. Ich werde meinerseits umgerechnet rund 7000 Euro an Gerichts- und anderen Kosten, die mir durch den rechtswidrigen Ausschluss von der Uni entstanden sind, zurückfordern.

Wie hat man Sie an der Uni eigentlich empfangen, nachdem der Prozess vorüber war?

Kühl. Ich habe mir aber sagen lassen, dass bei einigen Lehrkräften die Sektkorken geknallt haben, als das Urteil feststand. Die fanden das gut, dass sich mal einer wehrt und nicht alles gefallen lässt.

Bis zu Ihrer Exmatrikulation haben Sie die sanitären Verhältnisse im Wohnheim angeprangert und bis hinauf zum Bildungsministerium in Moskau eine Reaktion verlangt. Wo wohnen Sie heute?

Bei Freunden unweit von Orjol. Von der Uni war mir zwischenzeitlich wieder ein Wohnheimplatz angeboten worden, aber nicht in meinem alten Zimmer, das ich mir selbst her- und eingerichtet hatte, sondern im sogenannten besten Wohnheim für russische Studenten. Dort waren die Zustände noch schlimmer als das, was ich von früher kannte.

Vom Hör- in den Gerichtssaal: Ein Deutscher verliebt sich in die russische Provinz – und eckt an

Namhafte russische Medien wie die Internetzeitung Lenta.ru und der Fernsehsender „Doschd“ sind in den letzten zwölf Monaten auf Sie aufmerksam geworden. War das hilfreich, um mit Ihren Anliegen an der Uni Gehör zu finden?

Man hat nie das Gespräch mit mir gesucht. Manchmal werde ich auf der Straße erkannt, das ist aber auch alles.

Könnte es trotzdem sein, dass man sich hinter den Kulissen mit der Kritik beschäftigt hat?

Ich habe mir unlängst mal die Lehrpläne für das Wirtschaftsstudium angeschaut. Wir hatten ja im ersten Studienjahr sehr viel Allgemeinbildung: Kulturologie, Philosophie, Geschichte, sogar Sport und Zivilschutz. Inzwischen gibt es schon mehr sachbezogene Fächer. Vielleicht habe ich da einen Denkanstoß gegeben, wer weiß. Richtig vom Hocker gehauen hat mich gerade ein Besuch in meinem alten Wohnheim. Es ist vor einem halben Jahr grundlegend renoviert worden: neue Badewannen, neues Lino­leum, neue Küchenmöbel. Und in den Korridoren wurden die Wände gemalert.

Bis zu seinem Rauswurf von der Uni vor anderthalb Jahren wohnte Jörn Haese in Orjol im Wohnheim Nr. 6. Er dokumentierte die miserablen sanitären und hygienischen Bedingungen dort, schaltete sogar das russische Bildungsministerium ein. Diesen Herbst erfuhr er, dass der neue Gouverneur von Orjol, Andrej Klytschkow, angeordnet hat, in dem Wohnheim „Ordnung zu schaffen“. Zuletzt konnte sich Haese mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er einen späten Sieg errungen hat: Das Wohnraum wurde runderneuert. Die Fotos postete Haese auf seiner Seite im russischen Sozialnetzwerk VKontakte. © vk.com/id189509306

Haben Sie den Eindruck, dass auch in den Köpfen der Studenten etwas in Bewegung geraten ist?

Davon merke ich nichts. Die Studenten müssten zeigen, wie wichtig sie sind, sie müssten mehr für ihre Rechte eintreten. Aber sie haben noch gar nicht verstanden, was es bedeutet, einen Präzedenzfall zu haben. Das hängt mit der Mentalität der Menschen zusammen, mit der autoritären Erziehung. Man fällt kaum eigene Entscheidungen und wartet stattdessen, bis Entscheidungen von oben getroffen werden. Man hinterfragt nicht, ist mit 17, 18, 19 Jahren nicht aufmüpfig wie bei uns. Es fehlt auch das Objektive, Unabhängige.

Was meinen Sie damit?

Der Student baut über die Jahre eine gute Verbindung zur Lehrkraft auf, man gewöhnt sich anein­ander, kennt einander. Und diese Lehrkraft nimmt dann auch die Prüfung ab, wohl wissend, wie viel für den Studenten von den Noten abhängt, nicht zuletzt für die Höhe des Stipendiums.

So, wie wir Sie kennen, haben Sie sicher auch in Zukunft vor, sich einzumischen?

Ich will eine Stiftung gründen, um Studenten zu helfen, die in einen ähnlichen Konflikt mit ihrer Universität geraten wie ich. Bei Exmatrikulationen können sie sich an uns wenden. Die Umstände werden dann geprüft, und wenn das Verschulden nicht beim Studenten liegt, dann werden wir den Fall übernehmen, sofern das gewünscht ist. Landesweit. Denn ein Rechtsstreit kostet Geld, das Studenten meist nicht haben.

Und woher wollen Sie das Geld dafür nehmen?

Erst einmal aus eigener Tasche. Aber ich hoffe, dass auch andere einzahlen werden.

Das Interview führte Tino Künzel.

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