Der Begriff „Russisches Palästina“ hat zwei Bedeutungen. Seit dem 19. Jahrhundert nennt man das Anwesen des russischen Staates und der russisch-orthodoxen Kirche im Nahen Osten so. Aber es gibt noch ein anderes „Russisches Palästina“, und zwar Neu-Jerusalem. Am Ufer des Flusses Istra gründete Patriarch Nikon 1656 ein Kloster, das das Bild des Heiligen Landes verkörpern sollte. Der Patriarch konzipierte die Kathedrale der Auferstehung Christi im Kloster als eine Kopie der Grabeskirche in Jerusalem. Dieses Projekt war ein Erfolg und verblüfft durch seine Pracht.
Das bekannteste architektonische Element der Kathedrale ist eine dreistöckige Rotunde. Sie ist ein Symbol des ewigen Lebens. In der Mitte der Rotunde befindet sich die Grabeskapelle des Herrn, das Allerheiligste von Neu-Jerusalem.
Neu-Jerusalem hat vieles ertragen
Das Leben dort war nicht immer ruhig. Das Kloster wurde mehr als einmal geschlossen und begann danach wieder als heilige Stätte zu wirken. Einige Angriffe führten zu katastrophalen Folgen: Manche Klostergebäude wurden auf dem Gelände zerstört. Im Dezember 1941 stand die SS-Division „Reich“ in Neu-Jerusalem. Vor ihrem Rückzug sprengten deutsche Soldaten die Auferstehungskathedrale in die Luft. Die Rotunde, der Glockenturm und andere Gebäude der Kathedrale stürzten ein. Mit dem Wiederaufbau begann man Ende der 1940er Jahre. Im Sinne der damaligen Zeit handelte es sich um die Wiederherstellung einer Kulturstätte, nicht einer religiösen. Die letzte große Restaurierung des Klostergeländes und des Klosters fand in diesem Jahrhundert statt.
Auf Steinmauern
Man kann über Neu-Jerusalem nur in den höchsten Tönen schwärmen. In einem Punkt übertrifft das Auferstehungskloster definitiv die meisten orthodoxen Heiligtümer. Hier haben die Touristen die Möglichkeit, die Architektur und die umliegende Landschaft aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Niemand verlässt diesen Ort ohne traumhaft schöne Bilder für die sozialen Medien und das eigene Album.
Man sollte sich unbedingt Neu-Jerusalem von der Höhe der Klostermauern ansehen. Der Weg aber wird lang sein, denn die Mauer erklimmen und auch wieder von dort heruntersteigen kann man nur an einer Stelle. Aber es lohnt sich. Von dort aus sieht man alles anders und kann völlig in die Harmonie dieses einzigartigen Ortes eintauchen.
Unterkunft des Patriarchen
Das Kloster wurde mehrfach restauriert und umgebaut. Wahrscheinlich können wohl nur Architekturhistoriker verstehen, wo das 17. Jahrhundert ist und wo nicht. Aber man kann sich diesen Ort in seiner ursprünglichen Form vorstellen. Dazu muss der Besucher die Mauern des Klosters verlassen und zum Ufer des Flusses Istra hinuntergehen. Das dort stehende weiße Gebäude verdient besondere Aufmerksamkeit. Von außen sieht es ziemlich beeindruckend aus, aber im Inneren gibt es nicht so viel Platz, wie man von außen vermuten könnte. Darin befinden sich die Zellen, die abgelegenen Wohnstätten der Mönche. Patriarch Nikon selbst lebte auch hier. Das Gebäude heißt daher „Zelle des Patriarchen Nikon“.
Der eigene Jordan
Das „Russische Palästina“ muss seinen eigenen Fluss Jordan haben. Und es gibt ihn. Der Gründer des Klosters nannte die Istra so. Der Fluss selbst ist eine wunderbare Sehenswürdigkeit der Natur. Der Maler Isaac Levitan, einer der berühmtesten russischen Landschaftsmaler, ließ sich von seiner Schönheit inspirieren. Die Badesaison ist bereits vorbei (man darf nicht vergessen, dass es sich um das spirituelle Palästina handelt, die Temperatur von Luft und Wasser unterscheiden sich hier etwas vom „Original“), aber niemand wird das Betreten der spezielle Holztreppen hin zum Wasser verbieten. Zum Beispiel mit einer Staffelei. Darüber hinaus lohnt es sich, die Fußgängerbrücke, die die beiden Ufer des Flusses verbindet, zu überqueren. Am Nordufer des Flusses gibt es noch ein „Neu-Jerusalem“, und zwar ein großartiges Kunstmuseum.
„Grüne Architektur“ von Neu-Jerusalem
Der Bau eines großen modernen Museums in der Nähe einer heiligen Stätte ist keine leichte Aufgabe. Gelöst wurde sie im Rahmen des Konzepts der „grünen Architektur“. Es scheint, als ob das dreistöckige Gebäude akkurat und elegant in den Hügel „eingebettet“ wurde. Es beeinträchtigt die Umgebung überhaupt nicht. Das Dach des Museums sieht aus wie eine riesige Aussichtsplattform. Da möchte man unbedingt hinaufsteigen, um einen Blick auf die umliegenden Wälder zu werfen. Dies aber wird durch ein Schild mit der Aufschrift „Durchgang verboten“ verhindert, was jedoch nicht jedem Besucher sofort auffällt.
Das Museum in Istra wurde im Frühjahr 1920 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war das Kloster bereits keine religiöse Stätte mehr. Erst 2014 zog das Museum in ein neues Gebäude um. Heute wird die Sammlung des Museums in modernen Sälen ausgestellt und umfasst archäologische Exponate und Ikonen, Fliesen und Stoffe, Gemälde russischer und westeuropäischer Meister. Zusätzlich zur Dauerausstellung religiöser und weltlicher Kunst gibt es auch Sonderausstellungen zu sehen.
Bis zum 12. Januar 2025 veranstaltet das Museum die Ausstellung „Unsichtbar und frei“, die die Werke sowjetischer Künstler der Moderne der 1920er und 1930er Jahre präsentiert. Warum also keine touristische Pilgerfahrt ins russische Jerusalem machen?
Jekaterina Bykowa
Der Innovator: Patriarch Nikon
Patriarch Nikon (1605-1681) zeigte von Kind an Interesse für die geistliche Welt. In seinem langen Leben legte er den Weg vom einfachen Gemeindegeistlichen bis hin zum Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche zurück. Seine Kirchenreformen spalteten die Kirche. Und obwohl die Reformen andauerten, wurde Nikon aus dem Amt gejagt. Zar Alexej Michailowitsch befahl die Entfernung des in Ungnade gefallenen Priesters aus Neu-Jerusalem. Der neue Zar Fjodor Alexejewitsch holte ihn wieder zurück, aber der schon sehr kranke Nikon schaffte es nicht mehr bis zum von ihm gegründeten Kloster. Er verstarb auf dem Weg dahin. jb