„Wir kommen aus Kolonien, die aus Mikrokosmen niederstürzen/ die organische Spiralen winden/ in der Asche, die die Strahlung der Hülle in den Schatten stellt/ im staubigen Puder, der die Luftschleife ineinander bindet.“ So beginnt eines der neuesten Gedichte von Jekaterina Sacharkiw mit dem Titel „Eindringlinge“. Während sie die Welt durch das Mikroskop betrachtet, betrachtet sie Kirill Kortschagin in einem seiner letzten Gedichte eher durch ein Fernglas. „deutlich sehe ich wieder alles/ Hof und Tore/ in Flammen/ barhäuptige Berge, Schnee an den Gipfeln, die Piste/ es stapeln sich Bänder von Wind“, beginnt es. Die 1990 in Magadan geborene Sacharkiw und der 1996 in Moskau geborene Kortschagin haben beide mehrere Lyrikbände veröffentlicht und wurden mit namhaften Literaturpreisen prämiert.
Die Jungen fühlen sich hinter dem Eisernen Vorhang
In Westeuropa kennt sie wohl kaum jemand. Ins Deutsche sind vielleicht gerade noch russische Lyriker übersetzt, die in den fünfziger und sechziger Jahren geboren sind. Danach gähnende Leere. Insbesondere die Verse der jüngsten Generation, die in den Jahren des Zusammenbruchs der Sowjetunion geboren ist, verklingen irgendwo im Flachland zwischen Ostsee und schwarzem Meer.
Jekaterina Sacharkiw glaubt, dass es auch politische Gründe gibt. „Russland ist heute ziemlich abgeschnitten von der restlichen Welt. Es fühlt sich an, als seien wir wieder hinter dem Eisernen Vorhang. Das macht sich auch in der Kunst bemerkbar, insbesondere in der Lyrik, die ohnehin schon schwer zu übersetzen ist.“ Kirill Kortschagin setzt hinzu: „Die Dinge werden nicht von selbst bekannt. Dafür ist es nötig, dass jemand Mühe investiert und dafür bezahlt wird“.
Einer der wenigen Lyriker, die auch in Westeuropa einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben, ist der 1975 geborene Kirill Medwedjew. Allerdings weniger durch seine Lyrik als durch seine politischen Aktionen. Er kippte vor der kasachischen Botschaft literweise Kunstblut aus Rote-Beete-Saft aus, um auf die Arbeitsbedingungen in der Ölindustrie hinzuweisen. Er protestierte vor einem Theater, in dem ein Stück von Bertolt Brecht aufgeführt wurde, nachdem sich sein Direktor mit Putin solidarisiert hatte.
Das Ausland ist mehr an Politik als Lyrik interessiert
„Die ausländischen Medien interessieren sich natürlich vor allem für so etwas“, sagt Kortschagin, „das hat mit den Stereotypen über Russland zu tun.“ Auch in der jüngsten Generation gibt es Poeten, die der Protestbewegung nahestehen. Die 1990 in Sibirien geborene Dichterin und Aktivistin Galina Rymbu etwa beschwört in ihren Gedichten eine bedrohliche Atmosphäre. Da liegt der Geruch von Opfertieren in der Luft, Kriegsmaschinen stehen am Straßenrand, Rasierklingen stecken in Macbooktaschen.
Einig zu sein scheinen sie sich in einer Vorliebe dafür, verschiedene Diskurse und Sprachebenen aufeinander treffen zu lassen. „Ich möchte solche Gedichte schaffen, die völlig verschiedene Kontexte in sich vereinen können – sowohl kulturell abgesegnete als auch profane“, sagt Kortschagin. „Es ist eine Arbeit mit verschiedenen Sprachebenen, von persönlichen Bekenntnissen über eine Annäherung ans Fragment bis zu politischen Diskursen“, meint Jekaterina Sacharkiw über ihre Gedichte.
Versformen aus Antike und Futurismus
Beide schreiben in freier Versform. „Ich glaube, kein Autor kann sich heute der Wandlung der Realität entziehen, der Welt der Informatik und der Hyperkommunikation. Man kann sagen, meine Arbeit besteht darin, die freie Versform als Chimäre zu entlarven“, sagt Kortschagin. Hinter seinen scheinbar freien Versformen verbergen sich Rhythmen aus der Antike und dem russischen Futurismus.
„Aber für mich ist Tradition eine schmerzhafte Organik, sie muss aus sich selber erwachsen, aber wenn sie das tut, kann sie von außen betrachtet manchmal einen sehr seltsamen Eindruck erwecken.“
Ganz am Puls der Zeit ist die junge russische Lyrik schon durch die Art ihrer Verbreitung. Fast alle jungen russischen Lyriker veröffentlichen ihre Gedichte im Internet, in Blogs oder in sozialen Netzwerken.
Auch Kortschagin veröffentlicht seine Gedichte in sozialen Netzwerken. „Ich glaube, mit wenigen Ausnahmen haben es die Dichter immer vorgezogen, für die Öffentlichkeit zugänglich zu sein“, sagt er. „Außerdem bin ich immer neugierig zu erfahren, wer meine Texte liest, zumindest ungefähr“.
Die Szene individualisiert sich
Gibt es in der jungen russischen Lyrikszene Gruppierungen? Wie es scheint, kaum. „Ich glaube, die Literatur bewegt sich jetzt eher in Richtung Individualismus“, meint Sacharkiw.
Das findet auch Kortschagin. „Bei meiner poetischen ‚Elterngeneration‘, also denen, die ungefähr zehn, zwanzig Jahre älter sind, gab es in Moskau die Gruppe um die Zeitschrift Babylon und in Sankt Petersburg den Kreis um Arkadij Dragomoschenko. Aber die Leute meines Alters haben sich nicht sehr um Gruppen und Bewegungen gekümmert.“
Was es jedoch gibt, ist eine Institution. In die Vita zahlreicher junger russischer Lyriker hat das Maxim-Gorki-Literaturinstitut Eingang gefunden. Auch Sacharkiw hat dort studiert. „Es ist lustig, dass heute viele zeitgenössische Lyriker an diesem Institut studiert haben. Ehrlich gesagt – die Schule liefert eine solide Basis in verschiedenen Geisteswissenschaften, aber die kreativen Seminare sind voller gefährlicher Absurdität. Wir erinnern uns alle mit einem Lachen daran, wenn auch mit einer speziellen Dankbarkeit.“
Kortschagin, der selbst an der Fakultät für Radiotechnik, Elektronik und Automatik studiert hat, sagt, er kenne einige „hervorragende Lyriker, die dieses Etablissement besucht haben“, er sieht aber auch die Gefahr: „Sie ruft die Illusion hervor, dass die Welt auf diese Gemeinschaft beschränkt ist. Dabei ist sie riesig.“
Luisa Marie Schulz