Hoffentlich geht alles gut

Keine andere russische Großstadt hat seit dem Ende der Sowjetunion so massiv Einwohner verloren wie Workuta. Aber Anatoli Djakonow (43) ist immer noch da – und das gern. In der MDZ spricht der Bergmann über das Leben im hohen Norden, seine Arbeit in der Kohlegrube und den Umgang mit schweren Unfällen.

Auf dem Gelände einer kürzlich im altrussischen Stil erbauten Holzkirche in der Innenstadt von Workuta erinnern Marmortafeln an die Opfer von Unfällen in den Kohlebergwerken der Stadt. (Foto: Tino Künzel)

Eine schwarze Stadt

Schon mein Vater hat in Workuta unter Tage gearbeitet. Dabei stammen wir ursprünglich aus der Ukraine. Aber zu Sowjetzeiten konnte man hier oben gutes Geld verdienen, das hat Leute aus dem gesamten Land angelockt. Auch meinen Vater, der Ende der 1980er Jahre im Komsomolskaja-Schacht angefangen hat. Später, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion, hat er uns nachgeholt, da war ich neun oder zehn Jahre alt.

Woran ich mich noch genau erinnern kann: Wir kamen im April an, es lag Schnee, aber er war nicht weiß, sondern schwarz. Die ganze Stadt war schwarz. Heute wird mit Gas geheizt, aber damals wurde Kohle verfeuert. Und bei den hiesigen Frösten ging schön was durch die Esse. Diese Asche jedenfalls setzte sich auf den Dächern der Baracken ab, die es zu jener Zeit noch gab, und war einfach überall. Ich weiß noch, wie ich entgeistert aus dem Busfenster geschaut und mich gefragt habe, wo wir denn hier gelandet sind. Mir wurde regelrecht angst und bange.

Neun Monate Winter

Aber das ist nun weit über 30 Jahre her. Ich bin längst selbst Familienvater, habe fünf Kinder, arbeite schon 20 Jahre im Schacht. Mir gefällt es hier sehr. Ich bedauere kein bisschen, dass es uns damals ausgerechnet nach Workuta verschlagen hat. Man muss das erlebt haben, wenn es bei uns noch im Mai oder Juni schneit und dann auf einen Schlag der Frühling da ist. Alles blüht und sprießt. Oder wenn du im Juli bei 25 Grad zur Arbeit fährst und zum Feierabend Schnee fällt. Workuta ist immer für eine Überraschung gut.

Anatoli Djakonow traf sich mit der MDZ an einem freien Tag in einem Café. (Foto: Tino Künzel)

Wir haben hier neun Monate Winter. Auf die restlichen drei Monate entfallen die anderen Jahreszeiten. Das muss man mögen. Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, als Bergmann den gesamten Winter über die Sonne nicht zu sehen. Früh geht es im Dunkeln zur Arbeit, nachmittags im Dunkeln wieder nach Hause. Die Sonne scheint ja nur ein paar Stunden, wenn überhaupt. An den dunkelsten Tagen im Dezember liegt zwischen Sonnenauf- und -untergang wenig mehr als eine halbe Stunde. Dafür ist es im Sommer bei uns auch nachts taghell.

Ein stolzer Kumpel

Die Arbeit im Schacht ist hart. Wer sich damit nicht anfreunden kann, sucht sich besser gleich einen anderen Job. Ein Cousin von mir hat das drei Tage ausgehalten. Er hat sich zum Bergmann ausbilden lassen und einen Abschluss in der Tasche gehabt. Aber nach drei Schichten ist ihm klar geworden: Das ist nichts für mich. Heute arbeitet er bei der Eisenbahn und hat es bis zum Stationsvorsteher gebracht. Er ist heilfroh, dass er sich damals so entschieden hat. Wie man bei uns im Scherz sagt: Ich habe dort unten nichts vergraben, also muss ich auch nichts ausgraben.

Die Kohlegrube Workutinskaja. Hier arbeitet Anatoli. (Foto: Tino Künzel)

Mein Kindheitstraum war, Fernfahrer zu werden. An den Bergbau habe ich keinen Gedanken verschwendet, bevor wir hierher umgezogen sind. Heute bin ich stolz, ein Kohlekumpel zu sein. Mir macht die Arbeit Spaß, trotz allem, trotz des Drecks, der Feuchtigkeit. Der Zusammenhalt unter uns Berg­leuten ist größer als anderswo. Und es wird viel gelacht, man zieht sich ständig gegenseitig auf. Ohne Humor bist du im Schacht verloren.

Elf-Stunden-Tag

Eine Schicht dauert bei uns sechs Stunden. Aber de facto verbringen wir elf Stunden auf der Arbeit. Ich stehe halb fünf auf, um 5 Uhr geht der Bus. Ich wohne ganz in der Nähe der Grube Workutinskaja, wo ich in der Frühschicht arbeite, deshalb nimmt der Arbeitsweg kaum zehn Minuten in Anspruch. Ab halb sechs erhalten wir unsere Ausrüstung, ziehen uns um und fahren in die Grube ein. Dann vergeht noch mal eine Stunde, um unseren Arbeitsplatz unter Tage zu erreichen. Um 8 Uhr beginnt der eigentliche Arbeitstag und endet um 14 Uhr. Danach dasselbe in umgekehrter Richtung. Um 16 Uhr bringt mich der Bus nach Hause.

Ich finde, dass wir dafür nicht gerade gut bezahlt werden. 120.000 Rubel im Monat (umgerechnet rund 1500 Euro), das ist nichts. Und selbst diese Summe setzt voraus, dass der Plan erfüllt wird. Ansonsten wird sie auch noch gekürzt. Dabei steigen die Preise allein für Lebensmittel ständig.

Gehen oder Bleiben?

Zu Sowjetzeiten gab es hier 13 Gruben, heute sind es noch vier. Die Leute verlassen Workuta nicht, weil es ihnen schlecht geht, sondern weil es an Arbeit fehlt und sie ihre Kinder ernähren müssen. Es wäre etwas anderes, wenn man von einer Entwicklung sprechen könnte, von klaren Zukunftsperspektiven. Wenn mal wieder Gruben eröffnet und nicht nur welche geschlossen würden. Vorkommen sind vorhanden, noch vor zehn Jahren war die Rede davon, sie erschließen zu wollen. Warum das nicht passiert, weiß ich nicht.

Wenn es bei uns wieder aufwärts ginge, dann hätten wir auch wieder Zuzug, da bin ich mir sicher. Und es kämen die zurück, die sich aus Workuta verabschiedet haben. Was mich betrifft: Ich bin hier zufrieden und will nicht weg. Ich wüsste auch gar nicht wohin. Aber natürlich stellt man sich die Frage, wie das alles mal weitergehen soll.

Fürs Erste würde ich mir gern ein Sommerhäuschen kaufen. Das ist auf lange Sicht allemal günstiger, als Urlaub im Süden zu machen, was für uns als Großfamilie kaum zu stemmen ist. Und was brauchen denn die Kinder, um gesund aufzuwachsen? Einen See, Wald und frische Luft.

Die unsichtbare Gefahr

Mein erstes Bergwerksunglück habe ich 2004 im Komsomolskaja-Schacht miterlebt, dabei ist ein Arbeiter ums Leben gekommen. 2013 hat eine Methangas-Explosion im Workutinskaja-Schacht – in meinem unmittelbaren Arbeitsbereich – 19 Tote gefordert. Der letzte tödliche Unfall bei uns liegt drei Jahre zurück: wieder Methangas, keine Explosion, aber zwei Opfer. Es ist bekannt, dass der Kohleabbau in Workuta wegen einer hohen Methan­gas-Konzentration vergleichsweise große Gefahren birgt. Wir Bergleute werden immer wieder von Außenstehenden gefragt: Ihr wisst doch, wie gefährlich das ist, warum arbeitet ihr dann dort? Ja, jeder weiß das. Man weiß, welchem Risiko man ausgesetzt ist. Man hofft, dass alles gut geht und man unversehrt wieder nach Hause kommt. Was soll ich sonst dazu sagen?

Jedes Unglück hier beweint die ganze Stadt. Ganz egal, ob man die Toten kannte oder nicht. Das ist nun mal eine Bergarbeiterstadt. In der Beziehung sind wir eine große Familie. Wenn es zu solch einer Tragödie kommt, dann schweißt das die Leute erst recht zusammen.

Die Zeit und die Wunden

Natürlich nimmt einen so etwas mit. Und natürlich denkst du dir jedes Mal: Es hätte auch mich erwischen können. Aber wenn du danach wieder zur Arbeit gehst, dann hast du besser einen klaren Kopf wie ein Chirurg. Denn wenn du nicht bei der Sache bist, dann ist das der erste Schritt zu einem nächsten Unfall. Du hast eine Familie, die dich gesund und munter braucht, das sollte dein wichtigster Gedanke sein. Egal was kommt: Du darfst dich davon nicht kaputtmachen lassen.

Aber eines kann ich Ihnen sagen: Die Zeit heilt diese Wunden nicht. Meine toten Freunde stehen mir immer vor Augen. Manchmal, wenn jemand eine witzige Geschichte erzählt, trifft es einen plötzlich wie ein Schlag: Der und der hat doch auch oft etwas erzählt, mit dem und dem haben wir gemeinsam gelacht. Das vergisst man nicht. Das bleibt.

Launen der Natur oder menschliches Versagen?

Ich bin kein Professor oder so und nicht in der Position, globale Antworten auf die schwierige Fragen nach den Ursachen für diese Katastrophen zu geben. Jeder kann sich seine Theorien stricken, aber welche ist richtig? Wir versuchen jedenfalls, uns in unserem Berufsalltag so zu verhalten, dass Risiken minimiert werden. Aber leider kommt es immer wieder vor, dass Bergmänner zur falschen Zeit am falschen Ort sind.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

Workuta

In Russland gilt Workuta als Musterbeispiel einer sogenannten Monostadt, deren Wohl und Wehe mit einem einzigen Industriebetrieb steht und fällt. Gerät der ins Taumeln, wird die gesamte Stadt zum Problemfall. Workuta, im Vorland des Polaren Urals und mitten in der Tundra gelegen, hat heute noch offiziell 57 .000 Einwohner. Als die Sowjet­union unterging, waren es doppelt so viele. Mehr als ein Drittel aller Wohnungen steht leer. Eine voll ausgestatte Wohnung könne man heute schon für 700.000 Rubel erwerben, umgerechnet weniger als 9000 Euro, zitierte die „Rossijskaja Gaseta“ vorigen Sommer den Bürgermeister. Die Stadt versucht gegenzusteuern, indem sie Wohnhäuser in abgelegenen Außensiedlungen nicht mehr unterhält und die dort verbliebenen Menschen ins Zentrum umsiedelt, was immerhin den Haushalt entlastet.

Vor Ort hat man nicht das Gefühl, dass in diesem Vorzeigeprojekt der Sowjetzeit, erbaut in den 1940er und 1950er Jahren vor allem von Gulag-Sträflingen, bald die Lichter ausgehen könnten. Der namhafte Metallurgiekonzern Severstal hat sich unterdessen aber aus Workuta zurückgezogen. 2003 hatte er das Kohleunternehmen Workutaugol übernommen, Ende 2021 verkaufte er 100 Prozent seiner Anteile an die wenig bekannte „Russkaja Energija“-Gruppe.

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