Das Russland des Weltreisenden Ruben Diez

Ein Deutscher und ein Spanier am Ende der Welt. MDZ-Redakteur Tino Künzel und Youtube-Blogger Ruben Diez liefen sich zufällig in Workuta über den Weg, einer Kohlestadt nördlich des Polarkreises, auf Hunderten Kilometern nur von Tundra umgeben. Da konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass sie über Russland geredet haben.

Schnee und Eis, aber nicht Russland: Ruben Diez in der Antarktis (Quelle: Ruben Diez)

Ruben, wenn wir uns in Moskau begegnet wären, hätte ich mich nicht furchtbar gewundert. Aber Workuta ist so ziemlich der unwahrscheinlichste Fall von allen.

Ich bin schon über drei Wochen in Russland. Da waren ganz zu Anfang auch zwei Tage in Moskau dabei. Aber dann ging es nach Dagestan, nach Tschetschenien, zu den Nenzen auf die Jamal-Halbinsel und zum Abschluss nach Workuta. Die klassischen Sehenswürdigkeiten interessieren mich höchstens am Rande. Ich drehe Videos über das Leben der Menschen, über Kulturen, bevorzugt traditionelle Kulturen in abgelegenen Gegenden.


Der Youtube-Kanal von Ruben Diez (25) heißt „Lethal Crysis“ und hat 4,7 Millionen Follower. Der überwiegende Teil seiner Zuschauer sei zwischen 18 und 45 Jahre alt, sagt der Spanier. Etwa zweimal im Monat werden neue Videos hochgeladen. Sie erscheinen auf Spanisch, sind aber englisch untertitelt. Diez sieht sich nicht als typischen Youtuber, sondern eher als Dokumentarfilmer im Stile von National Geographic. Von seiner Russlandreise sind sechs Videos geplant. Sie werden voraussichtlich im Februar veröffentlicht.


Du hast dir für deine Russlandreise eine Zeit ausgesucht, in der viele Einheimische aus bekannten Gründen den umgekehrten Weg angetreten haben, von Ausländern ganz zu schweigen. Warum ausgerechnet jetzt?

„Ausgesucht“ kann man nicht sagen. Die Idee ist mir nicht gestern gekommen. Ich habe mir schon vor Jahren in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt zu den Rentiernomaden in den Norden Russlands muss. Jetzt hat es im vierten oder fünften Anlauf geklappt.

„Eine meiner Lieblingsreisen“

Um das gleich vorwegzunehmen: Hat sich die Beharrlichkeit gelohnt?

Unbedingt. Ich war dieses Jahr unter anderem in der Antarktis, in Syrien, Äthiopien, Bangladesch und Kolumbien. In Russland bin ich jetzt zum ersten Mal, aber das ist definitiv eine meiner Lieblingsreisen. Es kommt mir so vor, als hätte ich hier ganz unterschiedliche Länder besucht. Man kann halb Europa bereisen, von Spanien über Deutschland bis zu den Niederlanden und Belgien, und wird dabei mehr Ähnlichkeiten feststellen, als wenn man Moskau mit Dagestan vergleicht und Dagestan mit Workuta.

Dann mal der Reihe nach: Dagestan ist eine muslimisch geprägte Region zwischen dem Kaspischen Meer und den Kaukasusbergen. Was hat dich dorthin verschlagen?

Dagestan ist berühmt für seine Kampfsportler, darunter in den Mixed Martial Arts. Das war der eine Grund. Der andere: Ich wollte mir die Bergdörfer anschauen. Dagestan ist bekannt dafür, dass dort auf relativ kleinem Raum Dutzende Ethnien leben. Mit drei von ihnen habe ich mehrere Tage verbracht: den Awaren, den Darginern – das sind die beiden größten Volksgruppen – und den Laken. Ich habe mich dort wie im Paradies gefühlt. Jedes Dorf hat seine eigene Kultur. Dazu die Natur, die Berge – wunderschön. Ich war auch auf einer traditionellen Hochzeit. Das bedeutet mir viel. Das ist mein Job, aber auch mein Leben. Ich war nie auf einer Universität und ich habe auch keine Ausbildung in Fotografie oder Journalismus. Aber ich tue, was mir gefällt. Alles, was ich dafür brauche, habe ich mir selbst angeeignet.

„Hollywood“ in Tschetschenien

Auch in Spanien gibt es sicher bezaubernde Bergdörfer in malerischer Umgebung. Was macht für dich den Unterschied aus?

Dagestan ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Die Traditionen und Bräuche werden noch in einer ganz anderen Weise gelebt. Die Art, wie man sich kleidet, die Art, wie man kocht oder eben auch eine Hochzeit feiert, das findet man im übrigen Europa nicht mehr. Ähnliches lässt sich auch über die Rollenverteilung von Mann und Frau sagen, die man so eher aus dem arabischen Raum kennt. Ob das nun meinen eigenen Vorstellungen entspricht, sei mal dahingestellt. Aber es fasziniert mich einfach.

Wie hat sich Tschetschenien für dich angefühlt?

Grosny ist wirklich abgefahren. Wie Hollywood. Wir haben dort mit einem russischen Soldaten gesprochen, der im zweiten Tschetschenienkrieg gekämpft hat.

Erzähl mir von den Nenzen! Was war das für ein Erlebnis?

Für mich ist damit ein Traum in Erfüllung gegangen. Die Nenzen waren der wichtigste Grund, weshalb ich überhaupt nach Russland gekommen bin. Solche Stammes- und Nomadenkulturen haben es mir angetan. Ich war schon am Amazonas mit verschiedenen Volksgruppen zusammen. Oder im Kongo, Südsudan, Äthiopien, Mali, Tschad und anderen Ländern. Die Nenzen sind ganz ähnlich, nur in Eis und Schnee. Das macht die Kultur so einzigartig.

Tross von Rentierhierten im äußersten Norden Russlands (Foto: Tino Künzel)

„Wie im Märchen“

Um das geografisch einzuordnen: Was ist das für eine Gegend, wo du sie aufgesucht hast?

Es waren zehn Stunden mit dem Auto von Salechard (der Hauptstadt des Autonomen Kreises der Jamal-Nenzen im äußersten Nordwesten von Sibirien, auf der Ostseite des Ural – d. Red.). Immer nach Norden, fast bis zur Küste. Flaches Land. Im Umkreis von 360 Grad siehst du nichts außer Schnee. Dann zwei Tschums, die Wohnzelte der beiden Familien, bei denen wir zu Gast waren. Sozusagen die Tipis der Nenzen. Acht Menschen, zehn Hunde. Hunderte Rentiere in einiger Entfernung. Und nachts die Nordlichter am Himmel. Wie im Märchen.

Du hast den Alltag dieser Rentierhirten mit der Kamera begleitet?

Ja, wir waren knapp eine Woche bei ungefähr minus 35 Grad dort, haben gemeinsam gejagt, gefischt. Wir wären gern auch mit ihnen weitergezogen. Im Sommer migrieren sie mit ihren Herden fast jeden Tag an einen neuen Standort, im Winter ein- bis zweimal pro Monat. Aber es war zu stürmisch und damit zu gefährlich. Die Nenzen haben etwa zwölf Stunden, um ihre Behausung an dem einen Ort abzubauen, eine bestimmte Strecke zurückzulegen und sich woanders wieder häuslich einzurichten. Deshalb ist es so wichtig, den richtigen Tag dafür auszuwählen, damit die Wetterbedingungen kein Risiko darstellen. Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder, dann aber im August oder September, wenn die Tundra grün ist. Das ist eine ganz andere Welt.

Was war für dich als Weltreisenden besonders unerwartet?

Dass die Lebensqualität durchaus höher ist, als ich gedacht hätte. Natürlich ist vieles nicht einfach. Wenn du krank wirst oder einen Unfall hast oder dich in der Tundra verirrst, dann ist das ein Problem. Aber Essen gibt es in Hülle und Fülle. Bei uns kamen jeden Tag rohes Fleisch und roher Fisch auf den Tisch. Wobei die Essenszeiten nicht geregelt sind, weil es keinerlei Abhängigkeiten gibt. Mal isst man fünfmal am Tag, mal zweimal. Mal geht man dreimal am Tag zum Fischen, mal schläft man bis zum Mittag. Sie können tun und lassen, was sie wollen.

Leben unter Sowjetsymbolik

Ein Wort zu Workuta. Wie kam diese Stadt, die für ihre Gulag-Vergangenheit berühmt-berüchtigt ist, auf deine Liste?

Zunächst wollte ich nach Norilsk. Das soll der „schlimmste Ort auf Erden“ sein, wegen der Umweltverschmutzung durch die Industrie. Inzwischen weiß ich, dass das nicht der Wahrheit entspricht, aber das Internet ist voll von solchen Behauptungen. Für Norilsk, das eine geschlossene Stadt ist, hätte ich als Ausländer eine Besuchsgenehmigung gebraucht. Als Alternative bot sich Workuta an. Von Salechard sind es nur zehn Stunden mit dem Zug hierher. Für dieselben Leute, die Norilsk das Etikett des schlimmsten Ortes verpasst haben, ist Workuta die „traurigste Stadt der Welt“. Auch das stimmt natürlich nicht. Aber ich wollte sie mit meinen eigenen Augen sehen und mir mein eigenes Bild verschaffen.

Die Leninstraße in der Innenstadt von Workuta (Foto: Tino Künzel)

Und?

Ich würde hier nicht leben wollen. Aber ich finde es spannend, dass sich Menschen aus ganz Russland in der Arktis angesiedelt haben, um Kohle aus der Erde zu schürfen. Die meisten Gruben sind heute geschlossen und die Siedlungen, die für die Bergarbeiter und ihre Familien rund um Workuta entstanden waren, quasi Friedhöfe. Einige Menschen harren dort aus, weil das nun mal ihr Zuhause ist. Morgen will ich mit ihnen sprechen.

Ich weiß, dass die Stadtverwaltung das Ziel verfolgt, die gesamte Bevölkerung ins Stadtzentrum umzusiedeln. Denn es ist nicht billig, die Energieversorgung in weit entfernten Außenbezirken aufrechtzuerhalten, wenn da kaum noch jemand wohnt. Ich habe gehört, dass sich die Einwohnerzahl von Workuta in den letzten 20, 30 Jahren ungefähr halbiert hat.

Was für mich auf jeden Fall schwer zu begreifen ist: Die Gulag-Insassen waren Gefangene der Sowjetmacht. Viele Einwohner von Workuta sind Nachfahren dieser Häftlinge. Aber sie leben inmitten der Symbole der Sowjetunion, die allgegenwärtig sind. Für mich ist das ein Widerspruch in sich.

Die Mühen der Kommunikation

Jetzt, wo deine Reise zu Ende geht: Wie bist du in Russland letztlich ohne Russisch zurechtgekommen? Hast du viele Leute getroffen, die Englisch sprechen?

(Lacht) So gut wie keinen. Mein Englisch ist auch alles andere als perfekt, Spanien ist in der Beziehung längst nicht auf demselben Level wie zum Beispiel Deutschland. Aber Russland? Meine Güte. Die Leute wissen in der Regel kaum ein, zwei Sätze zu sagen. Und sie blocken auch sofort ab. Einmal wollten wir ein Taxi zum Bahnhof nehmen, eine Fahrt von fünf Minuten. Aber als wir den Taxifahrer auf Englisch angesprochen haben, da hat er uns einfach stehen lassen. Wir haben wie die Kinder auf ihn eingeredet: Tut-tut, wir müssen zum Zug, verstehen Sie? Ohne Erfolg.

Aber wenn die Kommunikation so schwierig war, färbt das nicht auf den Gesamteindruck ab?

Wenn sich jemand verschließt, dann wende ich mich an den nächsten. Irgendwie kommt man schon weiter. Ich brauche das nicht, dass mich alle mit einem breiten Lächeln empfangen. Und wenn man einem Russen, der abweisend reagiert, Zeit gibt, sich zu entspannen, dann hat man nach zehn Minuten einen ganz anderen Menschen vor sich. Deshalb war meine Erfahrung mit den Leuten trotz allem positiv.

Das Interview führte Tino Künzel.

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