Hinter der respektablen Fassade

Ausgewählte Schriften, in denen sich Russen mit ihrem Land und seinen Menschen auseinandersetzen, möchten wir den Lesern der MDZ im neuen Ressort „Drucksache“ vorstellen. Den Anfang machen Auszüge aus der Schrift „Mein Land und die Welt“, die der sowjetische Physiker und spätere Dissident Andrej Sacharow 1975 verfasste und nur im Ausland publizieren konnte.

Andrej Sacharow als Volksdeputierter 1989 in Moskau, ein halbes Jahr vor seinem frühen Tod mit 68 Jahren. (Foto: Igor Sarembo/RIA Novosti)

Der Alltag unseres riesigen Landes ist zweifellos sehr verzwickt und mannigfaltig. So wie in jedem Land, tragen die Arbeit der Menschen, wenn auch nicht immer produktiv und vernünftig organisiert, sowie die wachsende Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und von Bodenschätzen ihre sichtbaren Früchte. Tausende wuseln rege und scheinbar zufrieden mit ihrem Schicksal zu Füßen der wohlgeformten, sich in den Moskauer Himmel erhebenden Wolkenkratzer des Neuen Arbats herum. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich, wiederum nicht nur bei uns, vieles, das dem Blick von außen nicht zugänglich ist, verbirgt sich eine Unmenge an menschlichem Unglück, an Mühsal, Verbitterung, Gewalttätigkeit, extremer Erschöpfung und Gleichgültigkeit, angestaut über Jahrzehnte und dabei, die Grundpfeiler der Gesellschaft zu erodieren.

In unserem Land gibt es ungewöhnlich viele unglückliche, vom Schicksal gebeutelte Menschen: einsame Alte mit kümmerlicher Rente; Leute, die ihren Platz im Leben nicht gefunden haben, die weder Arbeit noch eine Möglichkeit zum Lernen oder anständigen Wohnraum – selbst nach unseren armseligen Verhältnissen – haben; chronisch Kranke, die nicht ins Krankenhaus kommen; unzählige Säufer und Heruntergekommene; anderthalb Millionen Häftlinge, Opfer einer blinden und häufig ungerechten, bestechlichen und von der Obrigkeit und der lokalen „Mafia“ abhängigen Justizmaschinerie, für immer aus dem normalen Leben verstoßen; einfach Pechvögel, die nicht rechtzeitig die richtigen Leute geschmiert haben.

Heimatliebe, aber …

Ihnen allen ist praktisch nicht zu helfen und es versucht auch kaum jemand in der allgemeinen Szenerie des schweren, kräftezehrenden Kampfes um den Lebensunterhalt seitens der Bevölkerungsmehrheit, der satten, selbstzufriedenen Abkapselung der Minderheit sowie einer auf Äußerlichkeiten fixierten, wenig effektiven sozialen Struktur. Die Verzweifelten belagern die hohen Vorzimmer, von wo aus es für viele – die Penetrantesten unter ihnen – direkt in die Psychiatrie geht.

Ich liebe die Natur und Kultur meiner Heimat, ihre Menschen sehr und bin überhaupt nicht scharf auf die Rolle des „Nestbeschmutzers“. Aber zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für unabdingbar, die Aufmerksamkeit auf jene negativen Besonderheiten zu richten, die prinzipielle Bedeutung für die internationalen Beziehungen und das Verständnis der Lage im Land haben und die von der sowjetischen und prosowjetischen Propaganda verschwiegen werden.

Das Dogma von der Überlegenheit

Zu den Glaubensgrundsätzen der sowjetischen und prosowjetischen Propaganda gehörte stets die These von der angeblichen besonderen Einzigartigkeit des sowjetischen politisch-wirtschaftlichen Systems, das, wie behauptet wird, ein Muster für alle übrigen Länder darstellt: das gerechteste, humanste, fortschrittlichste, die höchste Arbeitsproduktivität und den höchsten Lebensstandard hervorbringende und so weiter.

Dieses Dogma wird umso nachdrücklicher vertreten, je offenkundiger das totale Scheitern der meisten damit verbundenen Versprechungen ist. Es hält keinem Vergleich mit den tonangebenden kapitalistischen Ländern stand – damit tragen die Notwendigkeit, das Dogma zu stützen, und die Hypnose eines blinden Glaubens zur beispiellosen Abgeschlossenheit der sowjetischen Gesellschaft bei. Viele erinnern sich noch an Variationen der These: Wozu sollten wir von anderen lernen, wenn wir ihnen eine gesamte historische Epoche voraus sind? 

Jahrzehnte ungeheurer Gewalt

Die Abgeschlossenheit schafft ihrerseits die Voraussetzungen für eine Vielzahl negativer Erscheinungen nach innen und außen. Im Zeichen des Glaubens an das einzigartige weltumspannende Ziel vergingen Jahrzehnte ungeheurer Gewalt, die von westlichen Liberalen unbemerkt blieb, sei es aus Naivität, Gleichgültigkeit oder Zynismus. Ein tragisches Beispiel ist die Position eines klugen und zutiefst humanistischen Schriftstellers, der bewusst die Augen vor den teilweise schon damals offenkundigen Verbrechen des Stalinismus verschloss, weil er die Sowjetunion als einzige Alternative zum Nazismus betrachtete. (Anm. d. Red.: Gemeint ist Lion Feuchtwanger.) Noch davor hatte ein anderer Schriftsteller (George Bernard Shaw – d. Red.) die Gerüchte über eine Hungersnot in der Sowjetunion als übertrieben bezeichnet: Nirgendwo habe er so gut zu Mittag gegessen, sagte er, während gleichzeitig Sperrverbände des NKWD aus Maschinengewehren auf dem Hungertod nahe Kinder schossen, die sich ins Ausland durchzuschlagen versuchten.

Reste dieser Verblendung existieren nach wie vor und sind inzwischen am gefährlichsten für den Westen selbst. Heute ist das Verständnis des Wesens der sowjetischen Gesellschaft, dessen, was sich hinter der respektablen Fassade verbirgt, unabdingbar für die richtige Herangehensweise an fast jedes Problem von weltweiter Bedeutung.

Nicht konkurrenzfähig

Natürlich kann von der höchsten Arbeitsproduktivität der Welt bei uns keine Rede sein, es besteht noch nicht einmal Hoffnung, bei dieser Kennzahl in absehbarer Zukunft zu den führenden kapitalistischen Ländern aufzuschließen. Nicht zu übersehen ist die permanente Militarisierung der Wirtschaft, die in Friedenszeiten ihresgleichen sucht – eine Bürde für die Bevölkerung und gefährlich für die Welt. Nicht zu übersehen ist auch die chronische wirtschaftliche Überlastung, der Mangel an Reserven – und das bei unseren natürlichen Voraussetzungen: der Schwarzerde, der Kohle, dem Öl, dem Wald, der klimatischen Vielfalt und geringen Bevölkerungsdichte.

Besonders schwer wiegt, dass vor dem Hintergrund solcher Ressourcen nach 58 Jahre gigantischer Anstrengungen, davon 30 Jahre ununterbrochene Friedenszeit, das Lebensniveau noch nicht einmal annähernd Weltspitze ist. Ein Arbeiter aus jedem beliebigen führenden kapitalistischen Land – nicht nur aus den USA, sondern auch, sagen wir, aus Frankreich, Westdeutschland, Italien, Schweden und so weiter – würde sich weigern, für den Lohn zu arbeiten, der bei uns gezahlt wird, und bei unserem Maß an sozialer Absicherung seiner Rechte.

Warum sich das Volk nicht wehrt

Ausländische Gäste stellen hin und wieder die Frage: Wenn es denn bei uns tatsächlich so viele Defizite gibt, warum unternimmt das Volk dann nichts, um sie abzustellen? Es ist gar nicht so einfach, darauf eine eindeutige Antwort zu geben. Ein Stabilitätsfaktor für das Regime ist die Tatsache, dass der materielle Wohlstand zwar langsam, aber doch eindeutig wächst. Die Leute vergleichen ihr Leben ja nicht mit dem fernen und unerreichbaren Paris, sondern mit dem eigenen bettelarmen Gestern.

Doch noch wichtiger ist etwas anderes: Der totalitären Regimen immanente Schutzmantel ist die Trägheit von Angst und Passivität. Kein anderes Volk hat in einer einzigen Generation solch unvergleichliche Opfer erbringen müssen. Unser Arbeiter, das ist kein englischer und noch nicht einmal ein polnischer Docker, der bei Bedarf auf die Straße geht. Auch wenn dem sowjetischen Durchschnittsbürger jeden Tag vom Lautsprecher weisgemacht wird, dass dieses Land ihm gehört, so weiß er doch sehr genau, wer die wirklichen Landesherren sind – nämlich jene, die morgens und abends in gepanzerten schwarzen Limousinen über erstarrte, abgesperrte Straßen rauschen.

Produkt der totalitären Gesellschaft

Er hat nicht vergessen, wie sein Großvater als „Kulak“ enteignet wurde, und er weiß, dass heute sein persönliches Schicksal voll und ganz vom Staat abhängt – von nahen und fernen Vorgesetzten, vom Vorsitzenden der Wohnungskommission, vom Vorsitzenden der Gewerkschaft, der einen Kindergartenplatz für sein Kind versorgen kann oder auch nicht, vielleicht auch von einem neben ihm arbeitenden Informanten des KGB.

Bei Wahlen wirft er einen Stimmzettel mit einem einzigen Namen darauf in die Urne. Er kann nicht umhin zu erkennen, wie politisch erniedrigend solche „Wahlen ohne Wahl“ sind, er kann nicht umhin zu fühlen, wie viel Hohn für den gesunden Menschenverstand und die menschliche Würde in dieser aufwendigen Zeremonie steckt. Er wird dressiert und er lässt sich dressieren, um zu leben. Er belügt sich selbst. Der Sowjetmensch ist ein Produkt der totalitären Gesellschaft und seine wichtigste Stütze, bis sich das Blatt wendet. Ich kann nur zum Schicksal beten, dass der Ausweg aus dieser historischen Sackgasse nicht von solch immensen Erschütterungen begleitet wird, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Deshalb bin ich ein Befürworter von evolutionären Veränderungen, von Reformen.

Übersetzung: Tino Künzel

Der Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm

Mein Land und die Welt“ gehört zu Andrej Sacharows bekanntesten Schriften. Die hier veröffentlichten Auszüge stammen aus dem ersten von vier Kapiteln, überschrieben mit „Über die sowjetische Gesellschaft“. Der Text erschien 1975, im selben Jahr, in dem Sacharow den Friedensnobelpreis erhielt. Dass er sich immer wieder kritisch einmischte und wie in „Mein Land und die Welt“ kein Blatt vor den Mund nahm, hatte Folgen. Nachdem Sacharow den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan verurteilte, wurde er 1980 von Moskau nach Gorki, das heutige Nischni Nowgorod und damals eine geschlossene Stadt, verbannt. Erst Michail Gorbatschow holte ihn von dort zurück.

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