Der 9. Mai, der „Tag des Sieges“, ist immer ein besonderer Tag in Russland. Als ich 1987 als junger WDR-Reporter den Auftrag bekomme, einen Hörfunkbeitrag über die Veteranen und ihre Erinnerungen zu machen, gehe ich mit Herzklopfen in den Gorki-Park und frage mich: Wie werden sie reagieren? Ablehnend, kühl, aggressiv? Das Gegenteil ist der Fall. Die alten Soldaten in ihren Paradeuniformen mit den vielen Orden und Medaillen umarmen mich, halten mich fest. „Es darf nie wieder Krieg geben. Jungchen, trink mit uns einen kleinen Wodka und iss mal ein Butterbrot. Du bist ja viel zu dünn.“ Ich habe Tränen in den Augen angesichts dieser Herzlichkeit.
Dies ist eine der großen Leistungen des russischen Volkes, wobei die anderen Völker der Sowjetunion nicht auszunehmen sind: die Fähigkeit zu vergeben! Nicht zu vergessen, aber bereit zu sein, die ausgestreckte Hand anzunehmen. Direkt nach dem Krieg ist das noch problematisch. So gesteht die Sowjetführung erst in den sechziger Jahren ein, dass es Friedhöfe mit deutschen Soldaten auf ihrem Gebiet gibt. Angelegt noch im Krieg, damals von der Wehrmacht, die hinter der Front die Gefallenen beerdigte. Die Ostpolitik Willy Brandts, der Moskauer Vertrag 1970, erst dies ermöglicht dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, die Gebeine deutscher Soldaten zu bergen und auf den großen Sammelfriedhöfen beizusetzen. Den Durchbruch bringt dann 1992 das Kriegsgräberabkommen, geschlossen zwischen der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland.
75 Jahre ist der Krieg nun vorbei. Die Erinnerung könnte verblassen, aber sie darf es nicht. Die großen Friedhöfe vor Wolgograd mit 52.000 oder vor St. Petersburg mit 50.000 Gefallenen sind das kollektive Gedächtnis zweier Nationen. Eine ständige Mahnung. Und noch immer finden unsere Mitarbeiter pro Jahr an die 10.000 Gebeine. Ungefähr 1,4 Millionen deutsche Soldaten sind in Russland gefallen oder starben als Kriegsgefangene. Etwa ein Drittel, an die 500.000, konnte der Volksbund bisher bergen.
Nichts Heroisches, nichts Heldenhaftes ist auf den Soldatenfriedhöfen zu finden. Nur stilles Entsetzen in einer oftmals schönen Parklandschaft. Es ist die Unschuld der Natur, der Birken und großen Eichen auf den Friedhöfen, die einen auf den ersten Blick vergessen lassen, dass hier Tausende junger Männer liegen. Aber wenn man sich die großen Grabsteine mit den vielen Namen anschaut, dann ist man immer wieder bestürzt über das, was dieser Hitler und seine Schergen damals anrichteten. Meinen Namen, der ja nicht selten ist, den habe ich auf vielen unserer Friedhöfe gefunden. Hermann Krause, gefallen vor Kursk, Smolensk oder Wolgograd. 18, 22 oder 24 Jahre alt.
75 Jahre nach Kriegsende verschwindet die Generation der Veteranen aus Altersgründen. Den Satz „Es war ja Krieg!“, verbunden mit einem Achselzucken und einer Art Entschuldigung im zerfurchten Gesicht, habe ich immer wieder von ihnen gehört. Um dem deutschen Gesprächspartner, dem Gast, dem Touristen, dem Bekannten oder Freund entgegenzukommen. Damit dieser sich nicht rechtfertigen muss. Ihnen, den Veteranen, die so viel erlitten haben, steht der Satz „Es war ja Krieg!“ zu. Den Deutschen, die über die Sowjetunion herfielen, niemals. Auch nicht 75 Jahre später.
Hermann Krause