Heinrichs Jahrhundert

Er wurde im selben Jahr geboren wie die Sowjetunion. Doch das große Land, dessen Geschichte sich in seiner Biografie spiegelt, war dann doch viel kurzlebiger als er selbst: Am 14. Februar feiert Heinrich Herstein – auf Russisch Genrich Girstein – seinen 100. Geburtstag. Tausende Kilometer von der Wolga, wo er einst zur Welt kam.

In der fünften Klasse: Genrich Girstein ist in der zweiten Reihe von oben der Zweite von rechts. (Foto: Privat)

Nein, Deutschunterricht nimmt er inzwischen keinen mehr. Die Kurse im Deutschen Kulturzentrum von Chabarowsk am östlichen Ende von Russland hat Genrich Girstein immer gern besucht. Er soll ein gelehriger Schüler gewesen sein, an dem sich die anderen ein Beispiel nehmen konnten. Aber in letzter Zeit ist ihm der Weg zu beschwerlich geworden. Was nicht heißt, dass er nicht mehr selbst auf dem Markt einkaufen geht und einmal die Woche ins Dampfbad. Nur ist er eben nicht mehr ganz so gut zu Fuß. Auch das Kreuz schmerzt.

Dass er, der Russlanddeutsche, in hohem Alter überhaupt Deutsch zu lernen begann, das doch seine Muttersprache ist – eine Ironie der Geschichte. „Ich hätte nie geglaubt, dass man eine Sprache vergessen kann“, sagt er am Telefon. „Aber ich musste feststellen: Natürlich kann man das, wenn man sie nicht spricht.“ Die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in Russland haben ihm nicht nur in diesem Fall einen Streich gespielt.

Eine Kindheit auf dem Bauernhof

Geboren wurde Genrich Girstein am 14. Februar 1922 in Kukkus, einem Dorf an der Wolga, 1767 von deutschen Siedlern gegründet. Tausende hatten sich damals ins ferne Russland aufgemacht, darunter auch Wilhelm Herstein aus Hessen, der am 9. August 1766 in Oranienbaum bei St. Petersburg von Bord eines Schiffes ging.

Etliche Generationen später wuchs Genrich in einer Umbruchzeit auf. Gerade waren die Bolschewiki an die Macht gekommen und hatten sie im Bürgerkrieg verteidigt. Auch für die Wolgadeutschen wurde nun vieles anders, aber immerhin gewährte man ihnen eine begrenzte Autonomie. Die eigene kleine Welt blieb vorerst mehr oder weniger intakt. Genrich war noch Heinrich – oder Heinja, wie sein Vater sagte. Bis zur Einschulung sprach er nur Deutsch. Seine Großmutter Maria-Christina, Jahrgang 1873, konnte bis an ihr Lebensende kein Russisch.

Genrichs Eltern waren wie ihre Vorfahren Bauern, besaßen ein Stück Land und Vieh. Doch mit dem behüteten Leben auf dem Bauernhof war es 1930 vorbei. Vor der Zwangskollektivierung flüchtete die Familie nach Stalingrad. Dort entstand gerade das erste Traktorenwerk der Sowjetunion, dafür wurden alle Hände gebraucht. „Wir wohnten am Mamajew-Hügel, das war mein Berg, wo wir im Winter rodelten und Ski fuhren“, erzählt Genrich Girstein. Nur wenige Jahre später war die Anhöhe unweit der Wolga erbittert umkämpft. Heute befindet sich dort die wohl bekannteste Kriegsgedenkstätte Russlands.

Vater erschossen, Familie vertrieben

Am 5. August 1937 wurde Genrichs Vater verhaftet und 16 Tage später zusammen mit 13 anderen hingerichtet. Die Anklage nach Artikel 58.10 hatte auf „antisowjetische Agitation“ gelautet. Sie sei komplett erfunden gewesen, stellte 1959 ein Bezirksgericht fest, solche Urteile hätten „Fließbandcharakter“ gehabt.

Hat viel erlebt: Genrich Girstein (Foto: Privat)

1941 der nächste Schicksalsschlag: Wie alle Deutschen wurden auch die Girsteins auf Befehl aus Moskau von der Wolga nach Osten deportiert. „5000 Kilometer weit“, hat Genrich einmal gezählt. Per Schiff über das Kaspische Meer und per Eisenbahn durch die Steppe ging es nach Ostkasachstan, ins Vorland des Altai-Gebirges. Es gab sofort Arbeit im Kolchos, man musste zumindest keinen Hunger leiden. „Da hatten wir noch Glück.“ Doch schon nach drei Monaten wurden Genrich und seine drei Geschwister Johannes, Alexander und Emilia zur Trudarmee eingezogen, mussten Zwangsarbeit verrichten. „Konzentrationslager mit Stacheldraht und Wachtürmen waren das – und wir billige Arbeitskräfte“, sagt Genrich. Emilia kehrte aus dem Lager nicht zurück.

Deutschland war nichts für ihn

Genrich Girstein baute an so einigen Großobjekten der sowjetischen Wirtschaft mit, unter anderem aus der Atomindustrie. Darauf ist er heute stolz. Nur Deutsch konnte er auf den ganzen Baustellen mit niemandem sprechen und hat es mit der Zeit verlernt. An den Orten seiner Kindheit ist er nie wieder gewesen, lebt heute bei Kindern und Enkeln in Chaba­rowsk.

Zwei Neffen von ihm sind als Spätaussiedler nach Deutschland ausgewandert. In den 1990er Jahren, schon als Rentner, war er da mal zu Besuch. Es fühlte sich fremd an. Da wusste Genrich Girstein endgültig: „Meine Heimat ist Russland.“

Tino Künzel

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