Heinrich Martens: „Ich schaue mit Stolz zurück“

Am 30. September findet in Moskau eine Konferenz des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVDK) statt, auf der ein neuer Vorsitzender der Organisation gewählt wird. Die MDZ sprach mit Heinrich Martens, der den Verband seit dessen Gründung 31 Jahre geleitet hat und nun sein Amt zur Verfügung stellt.

Heinrich Martens tritt nach 31 Jahren an der Spitze des IVDK ab. (Foto: Denis Schabanow)

Erlauben Sie zu Beginn eine persönliche Frage: Wie fühlen Sie sich?

Ich habe schon seit einigen Jahren gesundheitliche Probleme. Zu chronischen Krankheiten kamen in letzter Zeit auch noch drei Covid-Infektionen hinzu. Und die Situation in der Ukraine trägt auch nicht gerade zum Wohlbefinden bei. Ich stamme selbst aus Donezk, dort leben Verwandte und Freunde. Was in der Stadt und um sie herum passiert, schmerzt mich. Ich hoffe, dass dort möglichst bald Frieden einkehrt.

Sie sind vor über 30 Jahren nach Moskau gekommen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie zurückblicken?

Der IVDK entstand in einer Zeit, in der die gesellschaftliche Bewegung der Russlanddeutschen von scharfen Gegensätzen geprägt war. Der eine Flügel sah sein Ziel in der Wiedererrichtung der wolgadeutschen Republik, und zwar in ihren früheren Grenzen. Der andere verfiel in immer wieder andere Extreme: mal eine Republik an der Wolga, mal in Kaliningrad oder in der Region Pskow, mal der nun schon absolut exotische Vorschlag einer „Ringrepublik“ von Siedlungen der Russlanddeutschen rund um Moskau. Weder die einen noch die anderen wollten praktische Arbeit vor Ort leisten. Kultur, Sprache, Jugend  – das sollte irgendwann später kommen.

Ich war immer überzeugt, dass es in einem Vielvölkerstaat wie Russland nicht angeht, wenn die Russlanddeutschen ihre Politik auf einer rein nationalen Grundlage betreiben. Es braucht die Integration in den gesamtgesellschaftlichen und kulturhistorischen Kontext. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, wie richtig diese Herangehensweise ist. 

Unter diesen Umständen wurde der IVDK im Juni 1991 gegründet. In Zusammenarbeit mit der russischen und der deutschen Seite im Rahmen der Beschlüsse der Regierungskommission für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen realisiert er ganz verschiedene Großprojekte – im Interesse der Russlanddeutschen selbst, im Interesse Russlands und im Dienste der deutsch-russischen Zusammenarbeit. Ich schaue mit Stolz zurück auf den Weg, den der Verband zurückgelegt hat, und die erreichten Ergebnisse.

Und was nun? Veränderungen machen Angst.

Ich bin mir sicher, dass ich zusammen mit einer Mannschaft von Gleichgesinnten ein System der Selbstorganisation der Russlanddeutschen aufgebaut habe, das robust ist und stabil funktioniert. An ihrer Spitze stehen unsere Organisationen auf föderaler Ebene: der IVDK, die Föderale National-Kulturelle Autonomie der Russlanddeutschen und der Jugendring. Die Projektarbeit in den Regionen läuft zuverlässig. Ich möchte auch die Schaffung deutscher kommunaler Strukturen in Sibirien mit Unterstützung des russischen Staats hervorheben – der Nationalkreise in der Omsker und der Altai-Region. Die Mitglieder des Ratskollegiums des IVDK haben unheimlich viel Erfahrung, in den Regionen gibt es Führungspersönlichkeiten, denen die Menschen folgen. Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft, wenn ich jetzt die abtrete.

Wie wird die neue Mannschaft gebildet?

Wichtig ist, dass im Prozess des bevorstehenden Wandels nicht die einzigartigen Erfahrungen in der Projektarbeit und die Strukturen der gesellschaftlichen Selbstorganisation in den Regionen verlorengehen. Gleichzeitig werden vielleicht auch neue Ideen, Projekte gebraucht. Warum nicht? Meiner Meinung nach sollte das Rückgrat der künftigen Mannschaft für die kommende Übergangszeit von erfahrenen Leitungskadern gestellt werden, aber mit vielversprechender Jugend an ihrer Seite. Es sollten wohlbedachte, weise Schritte unternommen werden, damit im Kampf der Ambitionen und auf der Jagd nach „leichten Entscheidungen“ nicht das Potenzial leidet, das dank der finanziellen Unterstützung des IVDK für die Projektarbeit akkumuliert werden konnte. Das ist umso wichtiger in der heutigen Situation, die nicht einfach ist. Ich denke, dass mich hier viele verstehen und unterstützen.

Wie steht es um die Kultur- und Geschäftszentren? Die deutsch-russische Zusammenarbeit ist ausgesetzt.

Sie sagen es. Das ist ein vorübergehender Zustand. Manch einer denkt sich jetzt vielleicht: Was redet der da? Schaut doch, was sich draußen vorm Fenster tut. Ja, vorm Fenster ist alles nicht einfach. Ja, für die Zusammenarbeit sind das nicht die besten Zeiten. Aber das ist ja nicht für ewig. Es gab in unserer Geschichte auch noch schwierigere Etappen. Auch wenn es nicht leicht ist und vielleicht gerade dann müssen wir den Blick nach vorn richten. Ich bin davon überzeugt, dass sich unsere Länder früher oder später wieder anzunähern beginnen. Und dann werden Ziegelsteine gebraucht, um die gesamte Konstruktion wieder zu stabilisieren. Wenn alle Beteiligten an diesem Prozess die nötige Weisheit und Geduld aufbringen, dann können sich die Kultur- und Geschäftszentren als solche Ziegel erweisen.

Vor 25 Jahren habe ich als erster Chefredakteur der „Moskauer Deutschen Zeitung“ aus Anlass der Eröffnung des Deutsch-Russischen Hauses in Moskau den damaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung interviewt, Horst Waffenschmidt. Der sagte mir damals: „In Russland werden viele Fragen für die Zukunft Europas entschieden, deshalb ist es gut, wenn es hier eine große und starke deutsche Minderheit gibt. Sie festigt die Verbindung zwischen Russland und Deutschland.“ Was soll man da hinzufügen?

Für die Russlanddeutschen ist es besonders wichtig, wie die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sind. Im vergangenen Jahrhundert wurden sie zweimal zur Geisel dieser Beziehungen.

Es gibt keine negative Einstellung gegenüber den Russlanddeutschen und die wird es auch in Zukunft nicht geben, da bin ich mir sicher. Der russische Staat betreibt eine ausgewogene Nationalitätenpolitik. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Föderalen Agentur für die Angelegenheit der Nationalitäten Russlands. Ungeachtet aller derzeitigen Schwierigkeiten erfährt die ethnokulturelle Tätigkeit der Russlanddeutschen auch weiterhin humanitäre Unterstützung durch unsere Partner in Deutschland. Ich hoffe sehr, dass alle Seiten in dieser Frage auch in Zukunft Weisheit und Verständnis an den Tag legen.

Was haben Sie nun vor? Sind Memoiren zu erwarten?

Pläne gibt es reichlich, sogar sehr ambitionierte. Für den Anfang will ich mich um meine Gesundheit kümmern. Alle anderen Pläne und Dinge sind, wie ich hoffe, irgendwann mal ein Grund, darüber in der „Moskauer Deutschen Zeitung“ zu schreiben. Ich wünsche den Lesern viel Gesundheit und alles erdenklich Gute!

Das Interview führte Olga Silantjewa.

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