Lidija Steisel (65), Rentnerin, Leiterin des russlanddeutschen Begegnungszentrums in der Siedlung Podgornoje, Kreis Tschainski
Meine Eltern wurden zwei Mal deportiert: 1941 nach Sibirien und 1942 noch weiter – gen Norden von Sibirien. So kamen wir in das Dorf Sbornoje im Kreis Tschainski. Diesen Ort gibt es heute nicht mehr. Hier wurde ich geboren. Ich habe die Fachschule in Tomsk absolviert und ein Fernstudium am Institut in Nowosibirsk. Aber mein ganzes Leben lang lebe ich im Kreis Tschainski.
Ich arbeitete im Finanzsektor, heiratete einen Deutschen. Unsere Familien bewahrten die deutschen Traditionen, wir feierten immer zusammen Ostern und Weihnachten. In unserer Kindheit „stellten die Eltern uns Mützen hin“. So sagen wir über die Tradition zu Ostern, wenn der Osterhase Mützen, gefüllt mit Süßigkeiten und Eiern, im Hause versteckt. Denn draußen lag immer viel Schnee zu Ostern. Das habe ich dann auch für meine Kinder gemacht. Und jetzt stellt meine Tochter für meine Enkel solche Mützen hin.
2017 bot man mir die Leitung des deutschen Begegnungszentrums in Podgornoje an, und ich willigte ein. Ich leite einen ethnokulturellen Klub zur Geschichte und den Traditionen der Russlanddeutschen. Wir haben 15 Mitglieder im Alter von 40 bis 70 Jahren, aber es kommen mehr Leute in den Klub. Auch meine Tochter und meine Enkelin. Die zweite Enkelin spielte heute in einem Konzert auf der Dombra, sie wird in diesem Jahr die Musikschule beenden. Es würden noch mehr Deutsche in den Klub kommen, wenn wir einen eigenen Raum hätten. Wir könnten mehr Veranstaltungen und Workshops durchführen. Dort würden wir auch alte deutsche Haushaltsgeräte sammeln und ausstellen. Ehrlich gesagt, brauchen wir dringend einen Raum. Wir haben uns schon einen ausgeguckt, aber wir benötigen Geld für die Miete.
Wie die Menschen leben? Im Grunde gut. Wer wollte, ist schon längst weggegangen. Meine Eltern wollten nicht. Wir haben sogar 1993 die Aufnahme als Spätaussiedler beantragt. Wir wurden zum Sprachtest nach Nowosibirsk bestellt. Ich dachte, dass man dort die Wahrheit sagen sollte. Als man mich fragte, ob wir zu Hause Deutsch sprechen, erzählte ich, dass, als meine Brüder in die Schule kamen, die Lehrerin die Eltern gebeten hatte, zu Hause weniger Dialekt zu sprechen, weil das die Kinder auch im Hochdeutschen verwirrt. So sprachen wir weniger Deutsch. Also, wir bekamen eine Absage. Wir seien keine Deutschen. Jetzt hat meine Cousine angeboten, eine Einladung auszustellen, aber wir lehnten ab.
Gebiet Tomsk
Die ersten Deutschen kamen bereits im 18. Jahrhundert nach Tomsk. Im nächsten Jahrhundert standen sechs Deutsche an der Spitze des Gouvernements Tomsk. Nikolai Gezekhus wurde erster Rektor der in Tomsk eröffneten Universität, und Karl Krüger gründete in der Stadt eine Brauerei. Sowohl die Universität als auch die Brauerei stehen noch. Und auch Deutsche leben hier, aber zumeist Nachkommen derer, die 1941 aus dem Wolgagebiet nach Sibirien deportiert wurden. Im Jahr 1950 lebten bereits mehr als 23 000 deutsche Sondersiedler in der Region Tomsk. Laut der letzten Volkszählung von 2020 leben noch etwa 5000 Deutsche hier.
Galina Moskina (geborene Trei, 73), Rentnerin, wohnt in der Siedlung Podgornoje
Ich bin hier geboren. Wurde Grundschullehrerin, Beste der Volksbildung. Warum ich nicht weggehe? Das ist meine Heimat. Mir gefällt alles hier – die Natur, die Menschen. Meine Eltern wollten auch nie weggehen. Mutter sagte, unsere Heimat sei jetzt hier, wo auf dem Friedhof am Ufer des Ob unsere Verwandten begraben sind. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Die Rente ist ausreichend. Ich hege keinen Groll gegen andere. Wissen Sie, wer leben und arbeiten will, kann überall leben.
Ich besuche unser Deutsches Zentrum. Dort tauschen wir uns aus. Ich kann aber nicht mehr Deutsch sprechen, habe es vergessen. Wir sind ja unter Russen aufgewachsen. In der Kindheit haben wir mit der Großmutter noch Deutsch gesprochen, sie konnte nicht Russisch. Als sie zu ihren anderen Enkeln zog, hörten wir auf, Deutsch zu sprechen.
Maria Simursina (geborene Haag, 69), Rentnerin, wohnt in der Siedlung Kolominskije Griwy, 40 km entfernt von Podgornoje
Wie es sich hier lebt? Mal gut, mal schlecht. Aber hier ist meine Heimat, mein Leben. Ich wollte nicht umziehen. Meine Mutter weinte ihr Leben lang und trauerte dem heimatlichen Wolgagebiet nach, wollte zurück. Sie sagte: „Dort gibt es Äpfel und Melonen, solche werdet ihr hier nie zu sehen bekommen“. Es war hier sehr schwer für sie, sie hungerten. Der Vater schuftete in der Arbeitsarmee im Ural. Später fuhr die Mutter zu ihm. Dort wurde ich dann geboren. Bald darauf zogen wir hierher, nach Narym, hier lebte Mutters Schwester. Russisch konnte ich schlecht, wir hatten ja immer Deutsch gesprochen. Ich konnte deshalb nicht eingeschult werden. Ich begann Russisch zu lernen und kam erst im Folgejahr in die Schule. Ich dachte, dass ich Deutsch niemals vergessen könne. Aber … Ich habe niemals verheimlicht, dass ich Deutsche war, obwohl man mich als Kind verspottete, eine Faschistin nannte.
Jetzt sind wir alle wie verwandt. Besonders in den letzten anderthalb Jahren sind wir enger zusammengerückt. Wir haben vor, bald Tarnnetze für die Front zu flechten. Ich gehe in den Dorfklub zu Proben, wir singen russische Lieder. Vielleicht werde ich hier ein deutsches Zentrum organisieren. Betagte Deutsche gibt es genug. Es gibt sogar welche, deren Mütter, die jetzt über 90 sind, noch leben.
Ich habe Enkel und Urenkel. Alle wohnen in Tomsk. Der Enkel bekam einen Platz im deutschen Kindergarten (Vorgymnasium „Kristina“, Anm. d. Red.). Wir wiesen dort die Unterlagen vor, die beweisen, dass ich Deutsche bin. Ich möchte, dass eine weitere Enkelin in den Tanzzirkel des Russisch-Deutschen Hauses geht. Wenn ich dann sehe, wie sie dort deutsche Tänze tanzen, denke ich an meine Mutter.
Meine Cousine ist nach Deutschland übergesiedelt und versprach, mich auch dorthin zu holen. Aber jetzt gesteht sie: „Wie gut, dass Ihr nicht gekommen seid!“ Sie erzählt, wie man sie dort hasst und, ihren Akzent bemerkend, ihnen ins Gesicht sagt: „Warum seid Ihr hergekommen?“ Wozu brauche ich Deutschland? Ich hatte von diesem Hass in der Kindheit genug.
Erna Tolstokulakowa (geborene Hammen, 83), Rentnerin, wohnt in der Siedlung Podgornoje
Ich war ein Jahr alt, als wir aus dem Wolgagebiet ausgesiedelt und nach Tatarsk (eine Stadt im Gebiet Nowosibirsk, Anm. d. Red.) verbracht worden waren. Danach brachte man uns hierher, in den Kreis Tschainski. Wir lebten sehr ärmlich. Mutter arbeitete als Melkerin. Auch ich ging in die Milchküche arbeiten.
Mein Sohn wohnt nicht weit weg von mir, im Nachbardorf. Die Tochter lebt noch weiter nördlich, in der Stadt Streschewoj. Ich möchte schon nirgendwohin mehr umziehen. Ich versorge den Garten, grabe ein bisschen um. Bei mir gibt es alles: Gurken, Tomaten, Paprika, Himbeeren, Johannisbeeren, Äpfel, Sauerkirschen, Stachelbeeren. Die Beeren friere ich ein und bereite daraus Kissel (ein russisches Getränk, Anm. d. Red.). Im Winter heize ich meinen Ofen an. In diesem Sommer haben wir unseren eigenen Brunnen gebohrt. Der Sohn kommt einmal die Woche vorbei, hilft beim Wasserpumpen. In das deutsche Zentrum gehe ich nicht, ich bin schon drei Jahre nirgends hingegangen. Früher habe ich das gemacht.
Jekaterina Reis (27), im Moment im Mutterschaftsurlaub, wohnt mal in Parabel, mal in Tomsk, wie sie sagt, halbe halbe
Ich bin in Parabel aufgewachsen, dort leben meine Eltern und mein Großvater. Er wurde als Zweijähriger aus dem Wolgagebiet hierher deportiert. Nach Beendigung der Schule zog ich nach Tomsk und studierte an einer Hochschule. Zu den Eltern fahre ich jedoch oft. Sie haben dort einen Garten, Himbeeren, Erdbeeren. Das sind etwa 400 Kilometer, fünf Stunden Fahrt. Gut, dass man auch mit dem Auto von Tomsk nach Parabel fahren kann. Weiter geht es nur mit dem Hubschrauber. Streschewoj – das ist schon das Ende der Welt.
Was hält die Leute im Norden? Dort sind die Löhne und die Renten höher wegen der Nordzuschläge. Aber es gibt keine großen Perspektiven, deshalb sind auch wenig junge Leute da. Natürlich gibt es in Parabel Schulen, Zirkel für Kinder, eine Musikschule. Hochschulen sind jedoch nicht vorhanden, nur eine Berufsschule. Wenn ich mir meine Mitschüler anschaue, die in Parabel geblieben sind, haben viele zu trinken angefangen. Alle wollen eine Arbeit bei den Gas- oder Ölfirmen ergattern.
Aufgeschrieben von Olga Silantjewa