Häusliche Gewalt: Blaue Flecken reichen nicht

Russland hat ein Problem mit häuslicher Gewalt. Jede vierte Frau ist davon betroffen. Bis zu 14 000 sterben an den Folgen häuslicher Gewalt. Doch die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Das prangert die NGO „ANNA“ an.

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Häusliche Gewalt soll nicht als Straftat geahndet werden / Foto: Pixabey.

Die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt ist ein Rückschritt. Auch der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, erinnerte Russland daran, dass das Land an die Europäische Sozialcharta gebunden ist. Geholfen hat es nicht. In zweiter Lesung hat die Duma einen Gesetzesentwurf angenommen, der Schläge in häuslichen Lebensgemeinschaften von einer Straftat in eine einfache Ordnungswidrigkeit überführt. Das „Ohrfeigengesetz“ gilt nur dann, wenn der Täter zum ersten mal zuschlägt und das Opfer keinen gesundheitlichen Schaden davon nimmt. Anschließend fallen 5000 Rubel Geldbuße oder Arrest an. Häusliche Gewalt ist nun in Russland ein Kavaliersdelikt. 

Als Initiatorin gilt die Duma-Abgeordnete Jelena Misulina der konservativen Partei „Gerechtes Russland“. Das neue Gesetz solle die Familientradition schützen, so die provokante Begründung.

Die Gesetzesänderung  sieht das Nationale Zentrum für Gewaltprävention „ANNA“ in Moskau als Gefahr. „Nun bleiben Frauen in unserem Land vollkommen ohne Schutz“, so die Einschätzung des stellvertretenden Direktors Andrej Sinelnikow. Die Einrichtung ist eine von wenigen in Russland, die Frauen hilft, wenn sie Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Seit fast 25 Jahren berät die NGO in juristischen Belangen, oder leistet psychologische Unterstützung.

Die Gesetzesreform sollte auch die Gerichte vor „Bagatelldelikten“ entlasten. Das erhofft sich zumindest Wladimir Dawydow vom Obersten Gericht. Die Praxis zeige aber, so Sinelnikow, dass die meisten Fälle seit Jahren schon als Privatklagen beim Zivilgericht eingereicht werden, bei denen strafbare Handlungen durch den Verletzten verfolgt werden. Somit muss die Frau die Rolle des Anwaltes und des Staatsanwaltes spielen: Angefangen beim Verfassen der Anzeige, hin zur Dokumentation von Beweisen sowie Zeugenaussagen – und das ohne kostenlose Rechtsberatung. 

„Er schlägt mich, also liebt er mich“, heißt ein russisches Sprichwort. Liebe und körperliche Übergriffe werden in Russland häufig gleichgesetzt, berichtet Sinelnikow aus seiner jahrelangen Erfahrung. Das Vertrauenstelefon von ANNA registriert jährlich mehr als 5000 Anrufe. Mehr als 70 Prozent dieser Frauen wenden sich nicht an die Polizei, auch wenn sie körperlich und seelisch misshandelt werden. „Die Betroffenen glauben nicht, dass ihnen geholfen werden kann. Bei uns herrscht häufig die Mentalität: ‚Selber Schuld‘. Unser Ziel ist es deshalb, Frauen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken und sie aufzuklären, wie sie handeln können.“

Obwohl sich die öffentliche Meinung in den letzten Jahren zu diesem Thema geändert habe, so die Einschätzung vieler Aktivisten, wird es nicht zu Protesten kommen. Gaben zu Beginn der 2000er Jahre 80 Prozent der Befragten an, dass häusliche Gewalt ein familiäres Problem sei, in das sich der Staat nicht einmischen dürfe, so seien heute 70 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Staat nicht ausreichend Schutz biete. „Aber aus irgendeinem Grund hat sich die Meinung bei den Duma-Abgeordneten nicht geändert.“ Man dürfe häusliche Gewalt nicht für ein Unterschichtenproblem halten. Frauen jeden Alters und jeder sozialen Schicht können Opfer werden, so der Leiter der NGO „ANNA“.

Russland ist einer von vier der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates, welche die Istanbulkonvention weder unterzeichnet noch ratifiziert haben. Das Übereinkommen kriminalisiert alle Handlungen von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt in der Familie.

Katharina Lindt

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