„Papa, du stehst da auf verlorenem Posten“

Zuletzt verging kaum ein Tag, an dem Felix Schulteß (52) nicht in Moskauer Fernsehstudios saß und über Belarus, Nawalny oder Nord Stream 2 sprach. Der deutsche Regisseur ist bei der gegenwärtigen Themenlage ein gefragter Gast in den berühmt-berüchtigten Polit-Talkshows, wo er in bestem Russisch westliche Posi­tionen erklärt – wenn er denn zu Wort kommt.

Herr Schulteß, neulich konnten Sie in der Talkshow „Wremja pokaschet“ (Die Zeit wird es zeigen) im Ersten Kanal des rus­sischen Staatsfernsehens – es ging um Belarus – erst nach 50  Minuten zum ersten Mal einige Sätze am Stück von sich geben, bevor man Ihnen dann auch gleich wieder ins Wort fiel. Der Moderator hat Sie in der gesamten Sendung zwar wiederholt als eine Art Stimme des Westens behandelt, aber nur ein einziges Mal um eine Meinung gebeten, um die dann sofort zu belächeln. Fühlt man sich da als geladener Gast nicht, pardon, verarscht?

Felix Schulteß auf der Couch des Studios von „Wremja pokaschet“ im „Perwyj Kanal“ (Ersten Kanal) neben Moderator Artjom Schejnin (Foto: Screenshot YouTube Perwyj Kanal)

Nein. Meine kurze Aussage hat oft viel mehr Gewicht als die tausend Sätze, die der Moderator abspult und mit der er eine vorgefasste Meinung auf brachiale Weise durchsetzen will. Dadurch erhalten die Gegenargumente erst recht Aufmerksamkeit. Das merke ich auch an den vielen Reaktionen in den sozialen Medien. Wobei mir zweifellos lieber ist, wenn im Studio diskutiert werden kann. Ich komme gerade aus der Talkshow „Swoja prawda“ (Jeder hat seine Wahrheit) im Sender NTW, wo Dialoge möglich sind und wo man das Interesse spürt, dass auch mal ausgefeiltere Antworten zu hören sind, die so nicht im Drehbuch vorgesehen waren.

Sie haben also nicht den Eindruck, dass Sie das Feigenblatt sind, der Alibi-Ausländer, mit dem Meinungspluralität vorgegaukelt wird, während eigentlich das Gegenteil der Fall ist?

Ich bin das Lackmuspapier, an dem man die eigene Wahrheit zu beweisen sucht. Aber dieser Schuss geht oft nach hinten los, davon bin ich überzeugt. Zumindest bei denen, die nachdenken. Sicher nicht bei den Hardlinern und sogenannten Patrioten. Aber die wirst du sowieso nicht für dich gewinnen.

Viele würden sagen: Sie werden benutzt.

Dass andere Leute andere Meinungen zu dem Thema haben, damit kann ich leben. Ich kenne da schon das gesamte Spektrum, von „Dort würde ich ja nie auftreten“ bis hin zu „Du bedienst indirekt das System“. Ich setze mich in diese Sendungen, damit dort auch vom russischen Mainstream abweichende Sichtweisen vertreten sind, zumindest in Bruchstücken. Würde ich das nicht machen, wäre die Informationslandschaft trauriger und öder.

Was sind das denn für Rückmeldungen, die Sie in den sozialen Netzwerken bekommen?

Viele schreiben mir, weil sie weiterdiskutieren wollen. Manche stempeln mich als Feind des russischen Volkes ab. Andere wiederum sind froh, dass da mal einer den „Patrioten“ widerspricht und dagegenhält.

Wie sind Sie eigentlich zum Talkshow-Stammgast geworden?

Das fing damit an, dass man mich zu Filmbesprechungen eingeladen hat. Die Sendung „Sakrytyj pokas“ (Geschlossene Vorführung) lief zu einer grottigen Zeit mitten in der Nacht und wurde 2013 eingestellt. Aber weil ich als Ausländer eloquent genug gewesen war, um dort voll mitzuhalten, hat man mich später auch für andere Themen angefragt. 2014 wurden die Spannungen mit Russland dann so groß, dass man gern Deutsche, Amerikaner, Ukrainer, Polen und so weiter im Studio hatte. Weil ich schon mal auf dem Radar war, hat man mich auch für die politischen Talkshows gebucht. Und dann wird man eben herumgereicht. Die Redaktionen kennen meine Meinung und müssen entscheiden, ob sie meine kritische Stimme wollen oder nicht.

Auf wie viele Sendungen kommen Sie so pro Woche, Monat, Jahr?

Insgesamt werden es wohl um die 1200 Sendungen gewesen sein, bei denen ich dabei war. Allein 2015 habe ich 250 bestritten. Und diese Woche fünf, davon heute gleich zwei. Aber es gibt auch mal Monate, wo kaum Anfragen kommen, weil etwa innenpolitische Themen im Vordergrund stehen.

Werden diese Auftritte bezahlt?

Es werden sämtliche anfallenden Kosten erstattet. Darüber hinaus nehme ich kein Geld. Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, „gekauft“ zu sein.


Zur Person: Felix Schulteß

Kam mit elf Jahren zum ersten Mal nach Moskau, wo er von 1980 bis 1985 zur Schule ging, als sein Vater hier als Vertreter eines westdeutschen Konzerns tätig war. Kehrte 1990 als Filmregiestudent in die auseinanderbrechende Sowjetunion zurück. Arbeitete parallel für deutsche Fernsehsender, darunter in der Kriegsberichterstattung. Baute in der Folge zum Beispiel Druckereien, war Produktionsmanager im Verlagswesen, gründete ein Cateringunternehmen und eine Eventagentur und hält es für einen „großen Vorteil dieses Landes, sich stärker verändern zu können“, weil weniger an Ausbildung und Diplome gebunden sei. Verheiratet mit einer Russin, deren Familie von der Krim stammt. Hat die Pandemiezeit im Haus der Schwiegereltern bei Moskau verbracht. Sonst seit sechs Jahren in Berlin. Wird von dort zu Talkshows eingeflogen.


Die täglichen Polit-Talks in den beiden größten Sendern Perwyj Kanal (Erster Kanal) und Rossija 1, „Wremja pokaschet“ und „60  minut“, beginnen in der Mittagszeit und dauern bis zum frühen Nachmittag. Von beiden gibt es außerdem eine Fassung im Vorabendprogramm. Wer schaut so etwas?

Ausgehend von der Sendezeit: Hausfrauen, Rentner. Und ganz allgemein Leute über 45, das merke ich auch daran, von wem ich auf der Straße erkannt werde. Die Polit­sendungen sind Spartenfernsehen, das die 30-Jährigen gar nicht mehr gucken, es sei denn bei YouTube. Da stellt sich natürlich die Frage, ob das Zukunft hat. Zumal die Älteren politische Diskussionen von zu Hause gewohnt sind, die Jüngeren aber nicht. Die Generation Z ist lange eher unpolitisch gewesen, bis zu den Nawalny-Demonstra­tionen. Ich habe eine Tochter, die jetzt knapp über 20 ist, die gehört da auch dazu.

Wie findet es Ihre Tochter, dass Sie in den TV-Talkshows auftreten?

Am Anfang hat sie mich dafür ziemlich geblackmailt. Bis sie dann mal wirklich zugehört hat. Es war auch immer mal der Fall, dass der unabhängige Kanal „Doschd“ das eine oder andere Zitat von mir aus diesen Sendungen rausgezogen hat. Dazu hat sie gesagt: Mutig, Papa, auch wenn du da natürlich auf verlorenem Posten stehst und ich gar nicht verstehe, warum die dich das überhaupt sagen lassen.

In den Studios sind meist vergleichsweise viele Leute versammelt und es wird häufig laut. Ist das nicht anstrengend?

Wohl eher für den Zuschauer als für mich. Mir macht das nichts aus, genauso wenig, wie mich Beleidigungen treffen. Da habe ich schon ein ausreichend dickes Fell.

Was unterscheidet russische Talkshows von deutschen?

Der Emotionspegel ist viel höher. Und die Polarisierung. Manchmal werden Leute durchaus auch härter angefasst. Am Ende ist dann aber auch wieder eine große Toleranz für die andere Meinung da. Einmal ist bei einer Weihnachtsfeier einer von der Gegenseite auf mich zugekommen und hat gesagt: „Felix, wir sind immer Gegner, aber so, wie du sprichst, scheint mir, dass dir Russland nicht gleichgültig ist.“ Ein schönes Kompliment.

Was sagen Sie zur Wahrnehmung von Deutschland und den Deutschen in Russland?

Ich finde es immer noch ein Wunder, was für einen guten Stand die Deutschen hier haben – und zwar quer durch alle Generationen.

Das Interview führte Tino Künzel.

Felix Schulteß Ende August in der TV-Talkshow „Wremja pokaschet“
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