Elche in Bedrängnis

Europas größtes Waldstück in einem Stadtgebiet und das Zuhause vieler Elche: Der Nationalpark „Elchinsel“ im Norden Moskaus ist einzigartig – und liegt im Weg. Denn einzigartig ist auch die massive Verkehrszunahme in der russischen Hauptstadt. Eine neue Straße durch die Elchinsel soll Abhilfe schaffen. Doch die Bevölkerung wehrt sich.

Noch unbehelligt: Elch beim abkühlenden Bad in seinem Revier ©  Nationalpark Losinyj Ostrow

Er ist ein besonderes Naturerbe und das Zuhause vieler Tiere. Etwa 70 Elche und 300 Sikahirsche leben im Nationalpark „Elchinsel“. Und auch die Menschen schätzen das Naturgebiet als Ort der Erholung und Sauberkeit in der Metropole Moskau. Mit einer Größe von 116 Quadratkilometern bietet das Gebiet einer Vielzahl von Tierarten und den menschlichen Besuchern ausreichend Platz. Doch das könnte sich bald ändern. Denn das Gebiet befindet sich an wichtigen Zufahrtswegen zum Stadtgebiet. Die „Elchinsel“ liegt im Nordosten der Stadt und im angrenzenden Moskauer Gebiet. Eine der Hauptzufahrtsstraßen in die Stadt ist die Schtschjolkowskoje Schosse. Auf der Straße sind jeden Tag durchschnittlich 70 000 Personen unterwegs.

Und deshalb ist sie groß dimensioniert: Auf manchen Streckenabschnitten gibt es 14 Spuren. Weil das für die riesigen Verkehrsmengen aber noch zu wenig ist, fing die Verwaltung der Region Moskau 2013 an, Pläne für den Ausbau der Straße zu erarbeiten. Seit Anfang des Jahres werden die Planungen konkreter. Ein aktueller Vorschlag sieht nun vor, die Straße um ein 19 Kilometer langes Zweigstück zu ergänzen. Wie die Tageszeitung „Kommersant“ im März berichtete, soll dieses nördlich der bisherigen Straße – und damit zu großen Teilen durch die Elchinsel verlaufen. Die Zeitung bezieht sich auf einen Entwurf des Gouverneurs der Region Moskau, der vorsieht, 140 Hektar Land für den Ausbau der Strecke aus dem Nationalpark zu separieren und zu diesem Zweck die Parkgrenzen zu verschieben. Die Bebauung soll dann durch Aufforstung neuer Flächen an anderer Stelle wieder ausgeglichen werden. Laut Föderalgesetz ist die Bebauung von speziell geschützten Flächen wie dem Nationalpark aber verboten. Und die neu zu schaffenden Flächen liegen nicht in der Nähe des Parks.

Reichlich Kritik

Das Vorhaben sorgt deshalb für heftige Kritik. „Der Nationalpark ist ein nationales Naturerbe. Eine starke Bebauung schadet dem Gebiet erheblich und ist eine Bedrohung für alle dort lebenden Tiere“, erklärt Michail Kreindlin, Umweltexperte bei Greenpeace Russland, gegenüber der MDZ. „Eine Verkehrsschneise nimmt ihnen die nötige Bewegungsfreiheit.“ Wie ernst die Kritik gemeint ist, zeigte Greenpeace bereits. Die Umweltorganisation legte im Frühjahr eine Beschwerde gegen den Regierungsentwurf des Ministeriums für natürliche Ressourcen ein und forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, das Ministerium vor der Unzulässigkeit der Separation von Land aus dem Gebiet des Nationalparks zu warnen.

Dieses war dem Anliegen der Regionalverwaltung gefolgt und hatte ebenfalls einen Entwurf angefertigt. „Wir versuchen, das Problem an die Öffentlichkeit zu tragen“, betont Kreindlin. „Wir sind bereit, Berufung einzulegen, falls die geplante Bebauung vom Nationalpark realisiert beziehungsweise angenommen wird. Es geht einerseits um die Verletzung des russischen Rechts. Außerdem würde eine Umsetzung des Projektes bedeuten, dass eine starke Lobby sich immer gegen das Gesetz durchsetzen kann.“ Auch die Pläne zur Schaffung von Ausgleichsflächen sieht der Umweltschützer als keine Option. „Die Schaffung neuer Landstücke ist keine wirkliche Kompensation, weil diese keine direkte Verbindung zum Nationalpark haben.“ Auch in der Bevölkerung regt sich starke Kritik. Mehr als 200 000 Moskauer unterzeichneten bereits eine Petition gegen die geplante Abholzung im Nationalpark auf der Internetplattform „Change.org“. Und die Zahl steigt. Die Bürger positionieren sich dort und auf sozialen Netzwerken vor allem gegen das unrechtmäßige Vorgehen der Behörden.

Alternativen

Dass ein Ausbau der Verkehrswege dringend notwendig ist, gilt unter Experten als unumstritten. Doch gibt es auch sinnvolle Alternativen, wie der Verkehrsexperte und Dekan für regionale und urbane Entwicklung an der Higher School of Economics Moskau, Michail Blinkin, gegenüber der MDZ erklärt. „Die nordöstliche Verbindungsstraße ist extrem wichtig für die Stadt, und ihr Bau wurde schon vor vielen Jahren geplant“, berichtet Blinkin von einem weiteren Bauprojekt im Norden der Stadt, das die Elchinsel umgeht. Die Straße verspricht, die anderen Zufahrtsstraßen zu entlasten.

Nach Einschätzung Blinkins muss zudem der Schienenverkehr weiter ausgebaut werden. „Die Stadt braucht außerdem die Nord-Süd-Strecke von Puschkino nach Domodedowo.“ Das Eisenbahnprojekt ist eine von fünf geplanten Tangenten, die durch das Stadtgebiet führen. Mit dem Bau der Route soll nach Regierungsangaben im Jahr 2020 begonnen werden. Der Experte hält sowohl die Bahnstrecke als auch die nordöstliche Verbindungsstraße für sinnvolle Alternativen zum umstrittenen Projekt. „Beide Strecken sollen in der Nähe des bestehenden Zweigs der Jaroslawler Bahn verlaufen. In diesem Fall gibt es also keine zusätzliche Zersplitterung des Waldes, und das Ausmaß der Entwaldung ist minimal“, beschreibt Blinkin die Vorteile.

Was den Regierungsentwurf zum Projekt auf der Elchinsel angeht, zeigt sich der Wissenschaftler jedoch skeptisch. So seien die Pläne, die einen Bau durch den Nationalpark vorsehen „zweifelhaft“. Sollten die Behörde an ihren bisherigen Plänen festhalten, werden die Bauarbeiten voraussichtlich 2021 beginnen, wie der „Kommersant“ berichtete. Eine Abholzung von Waldflächen im Nationalpark hätte jedenfalls weitreichende Folgen und könnte dem zukünftigen Schutz anderer Naturflächen schaden, wenn die illegale Verschiebung von Grenzen zur gängigen Praxis wird.

Fiete Lembeck

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