Durch den Fernen Osten nach New York – auf sowjetischen Motorrädern

„Leavinghomefunktion“: Fünf Leute haben sich auf den Weg von Halle nach New York gemacht. Das Besondere an dem Trip: Die Gruppe legte die Route in alten „Ural“-Motorrädern zurück und nahm den langen Landweg über Russland. Darüber haben sie jetzt ein Buch veröffentlicht.

Gruppenbild in Tscherskij
Abenteuer im Fernen Osten: Ankunft in Tscherskij nahe dem Polarmeer nach 1600 Kilometer Flussfahrt. (Foto: Leavinghomefunktion)

Im Gespräch mit der MDZ schildert Anne Knödler, wie sie mit ihren Freunden in sowjetischen Motorrädern die Weiten Sibiriens und des Fernen Ostens durchquert hat.

Wie ist das Projekt zustande gekommen?

Das Projekt „Leavinghomefunktion“ wurde 2014 von Johannes Foetsch, Elisabeth Oertel, der Zypriotin Efy Zeniou und mir gegründet. Kaupo Holmberg aus Estland stieß 2015 dazu. Wir alle studierten Bildhauerei an Universitäten in Deutschland, Großbritannien und Estland. Nach dem Studium wollten wir einfach raus aus unserer Komfortzone, unbekannte Gebiete erkunden und uns ein eigenes Bild von der Welt machen. Somit verkauften wir unseren gesamten Hausrat, erlangten alte „Ural“-Motorräder und machten uns September 2014 auf den Landweg nach New York.

Warum New York als Ziel? Warum dieser Weg?

Wir hatten uns für den längsten möglichen Weg entschieden, nämlich den, der den gesamten Osten durchquert. Wir wollten unseren Alltag verändern und einfach das gewohnte Umfeld verlassen. Der Gedanke war es, sich einem unbekannten Gebiet zu stellen. Sichere Routinen sollte es nicht mehr geben. Da wir alle sehr durstig nach neuen Erfahrungen waren, fiel es uns nicht schwer, unser gemeinsames Leben ins Ungewisse zu verlagern.

Es ging niemals darum, in New York anzukommen. Die Stadt gab uns vielmehr nur eine Richtung vor. Die Tatsache, loszufahren und sich und die Welt damit neu zu entdecken und zu verstehen, war das eigentliche Ziel. Somit fiel die Entscheidung, die Reise auf dem Landweg zu machen, nicht schwer. Ausgeschilderte Wege gab es nicht mehr. Wir mussten uns jeglichen Herausforderungen selbst stellen und als Team gemeinsam Lösungen finden. Dies führte uns dann 40 000 Kilometer über Berge, durch Flüsse ohne Brücken, Wüsten, Sümpfe und Schwärme sibirischer Stechmücken.

Was für Menschen sind Ihnen auf Ihrer Reise begegnet?

Auf unserer Reise und vor allem auch in Russland haben wir die verschiedensten Persönlichkeiten kennengelernt. Seien es Motorradfahrer, Großmütter, Postmänner, Köche, Kapitäne oder Mechaniker gewesen. Ohne Ausnahme waren alle sehr besorgt um uns und haben uns unterstützt, wo sie nur konnten – mit einem Essen, einem warmen Bett, einem Wagenheber oder eben Ersatzteilen. Jeder von ihnen hat dazu beigetragen, dass wir überhaupt so weit gekommen sind.

Flussquerung mit LKW
Hilfsbereitschaft überall: Flussquerung ohne Brücke. (Foto: Leavinghomefunktion)

Wie sind Sie mit schwierigen Situationen umgegangen? Gibt es ein konkretes Beispiel?

Kurz bevor wir den alten Abschnitt der Kolyma-Trasse, einer Fernstraße in Jakutien, fahren wollten, sind mehrere Stoßdämpfer unserer Motorräder zu Bruch gegangen. Nun standen wir dort oben, in Kjubjeme, einem Dorf mitten im Nirgendwo, und brauchten passenden Ersatz. Also haben wir uns getrennt – ein Teil blieb bei den kaputten Motorrädern und der andere ist mit einem Lkw nach Ust Nera, der einzigen größeren Siedlung in der Umgebung, getrampt.

Dort fanden wir leider nicht die erhofften Ersatzteile, aber es gab wenigstens Telefonsignal. Also riefen wir unsere Freunde in Jakutsk an. Diese haben sich direkt aufgemacht und sechs neue Stoßdämpfer gekauft, sie in ein Paket gesteckt und mit einem Taxi zu uns ins 700 Kilometer entfernte Kjubjeme geschickt. In Russland erschien mit der Hilfe der Einheimischen niemals ein Problem unlösbar. – Sie haben einfach solch eine grundlegende Zuversicht, dass sich die Dinge richten lassen werden. Das hat uns sehr inspiriert.

Welche Begegnung empfanden Sie als besonders beeindruckend?

Ich persönlich fand die Fahrt mit unserem „Megafloß“ auf dem Fluss Kolyma am beeindruckendsten. Die Gegend dort ist so abgelegen, dass man wirklich ein Gefühl dafür bekommt, was es bedeutet, für sich selbst verantwortlich zu sein – ohne Netz und doppelten Boden. Zudem waren wir irgendwann über dem nördlichen Polarkreis unterwegs, wo die Sonne zu der Zeit nicht mehr unterging. Abseits jeglicher Zivilisation und des gewohnten Tag-Nacht-Rhythmus’ haben wir zunehmend das Gefühl für Raum und Zeit verloren – das war ein umwerfendes Erlebnis.

Gab es Unterschiede, wie die Menschen in den verschiedenen Ländern auf Sie zugekommen sind?

Ja, die gab es. Das ist ganz einfach kulturell bedingt. Aber generell waren uns die Leute immer wohlgesonnen. Am tollsten war das Gefühl, in so vielen Orten der Welt willkommen geheißen zu werden.

War es vorab geplant ein Buch zu veröffentlichen?

Ja, wir hatten von Beginn an vor, ein Buch im Anschluss an die Reise zu veröffentlichen. Doch konnte keiner damit rechnen, dass es so ein Wälzer wird. Sehr freuen wir uns natürlich darüber, dass wir die Möglichkeit haben, dieses Buch ins Russische und Englische übersetzen zu lassen, um auch den Menschen im Ausland zu zeigen, wie weit man es wirklich mit einer „Ural 650“ schaffen kann.

Welches sind Ihre nächsten Pläne?

Aktuell arbeiten wir an der Veröffentlichung unseres Dokumentarfilmes zur Reise, welcher im Herbst 2020 erscheinen soll. Mit allen damit verbundenen Terminen werden wir wohl noch ein weiteres Jahr gemeinsam als Team am Projekt arbeiten. Anschließend werden sich unsere Wege wohl für eine Zeit trennen, denn jeder wird das, was wir in diesem Projekt gelernt und erfahren haben, in einer eigenen Art und Weise für die Zukunft umsetzen wollen.

Die Fragen stellte Lisa Petzold.

Das „Megafloß“
Motorräder an Bord: das „Megafloß“ auf der Kolyma. (Foto: Leavinghomefunktion)
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