Die Neuvermessung der Avantgarde

Es ist die größte Retrospektive der Avantgarde. Fast 400 Exponate umfasst die Schau „El Lissitzky“, die erstmals auch dessen Malereien in Russland zeigt.

Lissitzky

Der Künstler und sein Werk: El Lissitzky im Selbstporträt. / Foto: Jewish Museum & Tolerance Center

Künstler, Architekt, Grafiker, Designer, Konstrukteur und Kunsttheoretiker: Der in Europa sehr bekannte und in Russland lange kaum beachtete El Lissitzky war ein Multitalent und ein Titan der russischen Avantgarde. Geboren 1890 in Potschinok nahe Smolensk, fielen die fantastischen Ideen des jungen Künstlers mit dem Zeitgeist der Oktoberrevolution zusammen.

El Lissitzky war einer der Hauptdesigner eines neuen Lebens

In Moskau ist ihm nun eine Ausstellung gewidmet, die seinen Namen trägt. Kuratorin Tatjana Gorjatschewa möchte El Lissitzky in erster Linie als Künstler und Erfinder darstellen, der furchtlos eine neue Realität konstruierte. Sie ist überzeugt, dass Lissitzky sich durch das Erschließen neuer Formen in Architektur, Malerei und Grafik als „Held eines utopischen Romans“ fühlte. El Lissitzky war jedoch nicht einfach Architekt oder Konstrukteur. Er war auch einer der Hauptdesigner eines neuen Lebens, der eine Welt nach den Gesetzen der Avantgarde erschaffen wollte.

In Russland ist El Lissitzky bisher vor allem mit Grafiken vertreten. Dank der Zusammenarbeit mit ausländischen Museen und privaten Sammlungen sind nun auch seine Malereien zu entdecken. Viele davon entstanden während seines Aufenthalts in Berlin 1922 und 1923. Dort Lissitzky zum Mittler zwischen sowjetischen Konstruktivisten und westlichen Designern wurde. Bereits zuvor hatte er Erfahrungen in Westeuropa gesammelt und von 1909 bis 1914 Architektur und Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Darmstadt studiert.

Gleich zwei Museen  präsentieren das  Multitalent

Die neue Retrospektive macht den Besucher nun an zwei Orten in Moskau mit allen Etappen und Stilrichtungen des Künstlers bekannt. Die Ausstellung im Jüdischen Museum und Zentrum für Toleranz widmet sich der frühen, „voravantgardistischen“ Phase Lissitzkys und seinem Schaffen in der Kultur-Liga, einer Vereinigung, die eine neue jüdische Nationalkultur erschaffen wollte. Neben Fotomontagen, Handschriften und Grafiken sind auch Buchillustrationen der jiddischen Ausgaben von Rudyard Kiplings Märchen zu sehen.

Die Neue Tretjakow-Galerie zeigt neben Fotografien erstmals auch die „Prouns“, die Projekte für die Behauptung des Neuen. Prouns sind bunte dynamische Konstruktionen aus Linien und geometrischen Objekten. Der Künstler selbst bezeichnete sie als die „Übergangsstation von Malerei zu Architektur“. Lissitzkys Architekturprojekte sind ebenfalls in der Neuen Tretjakow-Galerie zu sehen. Die meisten davon blieben indes auf dem Papier, als Teil einer bezaubernden Utopie.

Avantgarde

„Schlagt die Weißen mit dem roten Keil“. Propagandaplakat 1919. / Foto: Jewish Museum & Tolerance Center

Lissistzkys Ästhetik prägte das 20. Jahrhundert

Laut Selfira Tregulowa, Generaldirektorin der Tretjakow-Galerie, gibt es in Russland nun erstmals die Möglichkeit, El Lissitzkys Schaffen in seiner Gesamtheit zu betrachten. Außerdem kann der Betrachter nachvollziehen, wie Lissitzky die Ideen von Kasimir Malewitsch weiterentwickelte, indem er sie in den dreidimensionalen Raum überführte und von flachen suprematistischen Kompositionen zu plastischen Strukturen überging. Dies habe, so Tregulowa, in vielerlei Hinsicht die Ästhetik der europäischen und weltweiten Architektur des 20. Jahrhunderts bestimmt. Auch in der Geschichte von Fotografie, Plakat, Werbung und Ausstellungsdesign spielt El Lissitzky eine zentrale Rolle. Was in diesen Bereichen in den 1920er und 1930er Jahren gestaltet wurde, nimmt zu großen Teilen Bezug auf das Werk Lissitzkys.

Die Retrospektive ermöglicht es den Besuchern außerdem, sich mit einem weiteren wichtigen Thema auseinanderzusetzen: der Beziehung El Lissitzkys zur Macht. Die Exponate bilden einen Versuch, zu verstehen, wie Lissitzky, der im Jahr 1918 Mitglied der Abteilung für Bildende Künste des Volkskommissariats für Bildungswesen in Moskau wurde, es innerhalb des Systems der Staatsaufträge vermochte, mutige künstlerische Ideen wie die Prouns weiter voranzutreiben.

Daniel Säwert 

Beide Ausstellungen laufen noch bis zum 18. Februar.

Jewish Museum & Tolerance Center (Ul. Obrastsowa 11/1A)

Neue Tretjakow-Gallerie (Ul. Krimskij Wal 10)

 

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