Das Sannikow-Land, die Insel der Rätsel

Es gibt in Russland wahrscheinlich keinen Erwachsenen, der nichts vom Sannikow-Land gehört hat, einer Insel in der Arktis, an deren Existenz einige Forscher glaubten. Sie zu finden, kostete Eduard Toll das Leben. Jetzt folgte die Expedition des Seefahrers Nikolaj Litau der letzten Route Tolls.

Die Mannschaft von „Apostel Andreas“ in Tiksi (Foto: Nikolaj Litau)

Irgendwo hinter dem Polarkreis, in der Ostsibirischen See, gibt es einen erstaunlichen Landstrich mit warmem Klima. Zugvögel kommen zum Überwintern dorthin. Vielleicht ist der Landstrich sogar reich an Gold. An die Existenz eines solchen Gebietes glaubte man seit 1810, als der Jäger Jakow Sannikow „ein großes, weites Land“ mit „hohen steinernen Bergen“ nördlich der Kotelny-Insel gesehen hatte. Und man glaubte es bis zur russischen Polarexpedition von 1900–1902 unter der Leitung von Eduard Toll. Sogar danach noch. Auch heute ist das Rätsel um das Sannikow-Land nicht vollständig gelöst.

Die Expedition von 1900-1902

Baron Eduard Toll, aus einer Familie der Baltendeutschen stammend, erhielt eine gute naturwissenschaftliche Bildung. Im Jahre 1885 lud sein Landsmann Alexander Bunge den jungen Wissenschaftler zu einer Expedition zu den Neusibirischen Inseln ein. Bei der Überfahrt sah Toll erstmals das Sannikow-Land, genauer gesagt die Umrisse von vier Bergen nördlich der Kotelny-Insel. Er hielt ihre Koordinaten fest. Weil die Expedition zu Ende ging, kehrte Toll zusammen mit allen nach St. Petersburg zurück. Aber den Traum, dieses Land zu erreichen, hatte sich der Wissenschaftler in den Kopf gesetzt. 1893 war er wieder in diesen Breiten und sah erneut das Bergmassiv. Aber wieder hatte die Expedition andere Aufgaben zu erfüllen, deshalb näherten sie sich Sannikow-Land nicht.

Im Jahre 1900 rüstete Toll mit Geldern der Regierung, die an neuen Goldvorkommen interessiert war, eine spezielle Expedition aus, um Sannikow-Land zu suchen. Auf der Fahrt mit der Jacht „Sarja“ (Morgenröte) konnte das Land nicht entdeckt werden. Aber Toll begrub die Hoffnung nicht. Solange die Jacht zur zweiten Überwinterung ruhte, machte sich der Baron zusammen mit einem weiteren Deutschen, dem Astronomen Friedrich Seeberg, und den zwei Jägern Wassili Gorochow und Nikolaj Protodjakonow mit Schlitten auf die Bennett-Insel und von dort am 26. Oktober 1902 in Richtung Süden auf. Und verschwand.

1903 wurde zur Suche der Gruppe Toll eine Rettungsexpedition losgeschickt. Sie wurde von Alexander Koltschak geleitet, dem zukünftigen Führer der Weißen Bewegung während des Bürgerkrieges. Toll und seine Begleiter fand er nicht, aber er sah Spuren ihres Aufenthaltes auf der Bennett-Insel. Zurück in der Hauptstadt legte Koltschak die Ergebnisse der Suche vor. Seine Schlussfolgerung war, dass Toll seine letzte Ruhe auf dem Grund des Arktischen Ozeans gefunden hatte und das sagenumwobene Land, das er so lange gesucht hatte, nicht existiert.

Neusibirische Inseln (Illustration: MDZ)

„Das Sannikow-Land“

„Und es gibt es doch!“ Mit diesem Satz beginnen der berühmte Roman von Wladimir Obrutschew „Das Sannikow-Land“ (1926) und wahrscheinlich auch die Popularität der mystischen Insel in der Sowjetunion. In fast einhundert Jahren erfuhr der Roman ungefähr 30 Neuauflagen. Die schöne und romantische Geschichte wurde in 17 Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. 1973 kam der Film „Das Sannikow-Land“ in die sowjetischen Kinos. Damals sahen ihn über 41 Millionen Zuschauer. Der Text des Liedes aus diesem Film gehört bis heute zu den Top-15 der beliebtesten Gedichte der Russen.

Den Satz spricht der Held des Buches Matwej Gorjunow aus, nachdem Koltschak seinen Vortrag beendet hat. Im Roman, der einige Jahre nach der Erschießung Koltschaks erschien, wird er natürlich nicht beim Namen genannt, er ist einfach der „Vortragende.“ Gorjunow überredet den Akademiker Schenk, bekommt von ihm Geld für eine neue Expedition und macht sich mit Gleichgesinnten auf die Suche nach dem Sannikow-Land. Und er findet es! Der legendäre Landstrich befindet sich im Krater eines erloschenen Vulkans. Hier leben Menschen. Der Ort ist reich an Flora und Fauna. Ein nahender Vulkanausbruch vernichtet jedoch die Insel. Gorjunow kehrt in die Hauptstadt zurück, kann aber keine Beweise vorlegen.

Die Expedition von 2022

„Sannikow-Land hätte existieren können“, sagt heute der Seefahrer aus Moskau Nikolaj Litau. „Aber es wurde ständig kleiner und verschwand am Ende ganz. Ein ähnliches Schicksal ereilte zum Beispiel die Wassiljewski-Insel in der Laptewsee. Außerdem denke ich, dass Toll 1886, als er das erste Mal in diesen Breiten war, nicht das Sannikow-Land, wie er dachte, sondern die Bennett-Insel gesehen hat. Sie ist zwar weit weg, aber in der Arktis gibt es solche Erscheinungen, dass etwas sehr fern liegendes plötzlich nah erscheint.“ Nikolaj Litau wusste seit seiner Kindheit von Sannikow-Land, dank des Romans von Wladimir Obrutschew. Aber er hat, wie er selbst sagt, verstanden, dass das eine Fantasie ist.

Vor einem Jahr wurde Nikolaj Litau Sieger im Wettbewerb „Russlands herausragende Deutsche“ auf dem Gebiet des Sports. Diesen Wettbewerb führt der Internationale Verband der deutschen Kultur durch. Die Auszeichnungszeremonie hat der Forschungsreisende verpasst, er war auf dem Meer. Die Organisatoren des Wettbewerbs wollten ihn in diesem Jahr einladen, aber Litau war erneut weit weg von Moskau. Er brach am 16. August mit seiner Jacht „Apostel Andreas“ und einer Mannschaft aus sieben Mann zu einer Expedition auf, die dem 150. Geburtstag des herausragenden arktischen Seefahrers Fjodor Matissen (1872–1921) und dem 120. Jahrestag des Endes der russischen Polarexpedition unter der Leitung von Eduard Toll gewidmet ist.

Nikolaj Litau: Der deutsche Seefahrer, der aus der Steppe kam

Das Konzept der Expedition arbeitete der Moskauer Historiker Nikita Kusnezow aus. Er hat zuerst den Film „Das Sannikow-Land“ gesehen und danach das Buch gelesen. „Eine gewisse Zeit lang, in der Kindheit, glaubte ich an seine Existenz, aber dann hörte ich auf, daran zu glauben“, sagt der Forscher.

Auf den Spuren der Deutschen

Kusnezow schlug unter anderem vor, die Orte zu besuchen, die mit der Geschichte von vor 120 Jahren verbunden sind. So weilten sie auf der Kotelny-Insel, wo die „Sarja“ zum zweiten Mal überwinterte, und am Grab des Arztes der Expedition Herman Walter, der 1902 verstarb.

Grab des Artztes Herman Walter auf der Kotelny-Insel / Foto: Nikolaj Litau

Auf der Bennett-Insel erforschten sie Objekte des kulturellen Erbes. Darunter befand sich ein Berg aus Steinen, der wahrscheinlich von den Teilnehmern der Expedition von 1903 aufgetürmt wurde. Fünf Meter neben ihm fand man das Teil eines Ruders von einer Schaluppe. Es kann sein, dass er von den Teilnehmern dieser Expedition in die Mitte des Steinberges gesteckt worden war. Diese Reliquie wird im Weiteren an ein Museum übergeben werden.

Berg aus Steinen auf der Bennett-Insel (Foto: Nikolaj Litau)

Im nördlichen Teil der Insel fand die Mannschaft der „Apostel Andreas“ ein Kreuz, das in Gedenken an Baron Toll und seine Gefährten 1913 aufgestellt worden war. Eine Zeit lang galt es als verschollen. Am 30. August wurde im Hafen von Tiksi von den Teilnehmern der Expedition Litau eine Gedenktafel zu Ehren von Fjodor Matissen, dem letzten Kommandeur der Jacht „Sarja“ enthüllt.

Ein Gedenken an Baron Toll und seine Gefährten auf der Bennett-Insel (Foto: Nikolaj Litau)

Neue Antworten und alte Fragen

Außerdem wurde noch ein historisch-geografisches Experiment durchgeführt. Sein Sinn bestand darin, den Weg der Seefahrer vergangener Jahrhunderte auf einem möglichst ähnlichen Schiff zu wiederholen. Aber es ist natürlich wahr, wie Nikolaj Litau richtig bemerkte, das Wetter ist heute nicht mehr das, was es 1902 war: „Keine Hitze natürlich, aber Plusgrade. Vor 120 Jahren lag hier im August Schnee.“

Nach Meinung Nikita Kusnezows erlauben die Ergebnisse der Erforschung des Ufers der Bennett-Insel eine Konkretisierung der Details der Expeditionen, die auf diesem weit entfernten Fleckchen Erde in der Vergangenheit stattfanden.

Sie geben jedoch ganz bestimmt keine Antwort auf die Frage, ob es Sannikow-Land überhaupt gegeben hat. Es war da, versank dann aber im Wasser? Bestand es aus Eis, welches dann geschmolzen ist? Vielleicht haben Menschen die Verdunstungen über der Großen Sibirischen eisfreien Zone gesehen? Das Rätsel der mystischen Insel muss noch gelöst werden.

Olga Silantjewa

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