Man hat mir berichtet, dass Sie in Anapa zu Hause sind, einem Ferienort am Schwarzen Meer. Unser Gespräch findet ganz in der Nähe statt. Was hat Sie in diese Gegend verschlagen?
W.B.: Das Klima. Nach dem norddeutschen Wilhelmshaven wollten wir an einen wärmeren Ort. Wobei wir erst Moskau in Erwägung gezogen hatten, aber das ist so überurbanisiert, da wird man als Rentner ja verrückt. Dann fiel die Wahl auf Krasnodar im Süden. Dort ist es allerdings im Sommer so heiß – nicht auszuhalten. Deshalb sind wir nach Anapa direkt ans Meer weitergezogen.
Als Russlanddeutsche stammen Sie aber vermutlich aus ganz anderen Ecken des Landes.
W.B.: Ich komme aus einer wolgadeutschen Familie und bin in Kasachstan geboren, wohin meine Vorfahren 1941 im Zuge der Deportation von der Wolga kamen. Als die Ortsbindung fallengelassen wurde, ging es in den Altai und später an die Wolga zurück, wo man uns allerdings beschied: Deutsche nehmen sie dort nicht auf. Also sind wir weiter nach Petrow Wal in der Wolgograder Oblast, dort habe ich meine Frau kennengelernt. Später bin ich Berufssoldat geworden, da hat man ja keine feste Bleibe. 1993 bin ich mit 38 Jahren aus dem Dienst ausgeschieden, im Rang eines Oberstleutnants. Ich wollte mich nicht daran beteiligen, mein Land zu Grunde zu richten.
L.B.: Ich bin in Sibirien zur Welt gekommen, im Dorf Mironowka in der Region Omsk. Das war fast nur von Deutschen bewohnt. Bis ich zur Schule kam, habe ich kein Russisch gesprochen.
In den 1990er Jahren sind Sie wie so viele Deutsche nach Deutschland gegangen. Was hat dafür den Ausschlag gegeben?
W.B.: Es lebte bereits Verwandtschaft von uns in Deutschland. Und Russland – das hieß damals Trunkenheit, Hunger, bettelnde Alte, Hoffnungslosigkeit, Banditentum und, was das Schlimmste ist, stumpfe Blicke der Jugend. 2018 sind wir in ein anderes Land zurückgekehrt, in dem überall gebaut wurde, die Städte sauber waren und Aufbruchstimmung herrschte.
L.B.: 1995, als wir übergesiedelt sind, war ich sehr krank. In Russland hatte man mich erfolglos operiert. Ohne die deutschen Ärzte wäre ich heute wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben. Ich bin Deutschland für vieles dankbar – auch dafür.
Im Wissen darum, dass Sie sich letztlich für die Rückkehr entschieden haben: Was für Erfahrungen haben Sie als Spätaussiedler in Deutschland gemacht?
W.B.: Was wir heute haben, wäre ohne Deutschland undenkbar gewesen. Wir haben schon 1996 unseren ersten Lebensmittelladen mit russischen Spezialitäten eröffnet und später weiter expandiert. Wir konnte es uns leisten, zwei Häuser zu bauen – eines für uns und eines für unsere Tochter. Und das, obwohl man mich wegen meiner Armeevergangenheit nicht als Spätaussiedler anerkannt hat …
L.B.: … nur als Ehemann einer Deutschen.
W.B.: Ich habe erst nach acht Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen und Sozialleistungen standen mir auch nicht zu. Aber ich wollte sowieso nicht von irgendwelchen Hilfen leben. Das war auch ein Grund, unsere eigene Firma aufzumachen, selbst Geld zu verdienen. Einstellen wollte mich zu der Zeit niemand.
L.B.: Deutschland hat uns ermöglicht, Mensch zu sein, als in Russland alles den Bach runterging. Man hat uns zu vollwertigen Mitbürgern gemacht.
Voll und ganz wohlgefühlt haben Sie sich scheinbar trotzdem nicht, sonst wären Sie noch dort.
W.B.: Deutschland ist gut zum Arbeiten. Und um in der Türkei Urlaub zu machen. Oder in Italien. (lacht)
Nicht zum Leben?
W.B.: Das Leben ist langweilig. Uns schmerzt das in der Seele. Wir sind anders aufgewachsen, anders erzogen. Als Russen haben wir uns in Deutschland schwergetan.
L.B.: Wir fühlen uns ja zur Hälfte russisch.
W.B.: Mehr als nur zur Hälfte.
Aber was genau hat Ihnen denn gefehlt?
W.B.: Der Umgang ist einfach ein anderer.
L.B.: Lassen Sie mich versuchen, es Ihnen zu erklären. In Russland fragst du jemanden nach dem Weg und wenn du ihn am nächsten Tag wiedersiehst, dann ist das so, als ob sich zwei alte Bekannte treffen. Dein Nachbar ist dir heilig, der ist wie Verwandtschaft und sogar noch ein bisschen mehr. Und erst Freunde. Die tun alles füreinander.
W.B.: Den Deutschen siehst du nicht an, in welcher Stimmung sie sind. Die setzen ein Gesicht auf und lächeln für alle Fälle.
L.B.: Mir ging es gut in Deutschland. Als Malerin habe ich dort viel ausgestellt, auch in Nachbarländern. Wenn ich heute nach Deutschland komme, fühle ich mich wie zu Hause. Aber nach einem Monat setzt das Heimweh ein. Und wenn ich dann in Moskau lande, atme ich erst mal so richtig durch.
W.B.: Die Deutschen sind schon in Ordnung. Ich habe überhaupt nichts gegen sie. Aber wir unterscheiden uns eben, was die Mentalität betrifft. Und manchmal hat man schon auch mit dem Finger auf mich gezeigt, da wurde ich als „russische Mafia“ bezeichnet, längst nicht nur im Spaß. Das ist vorgekommen. Auch in Deutschland mit seinen Gesetzen und seiner Ordnung ist nicht alles immer so ideal, wie man glaubt.
Wie haben Sie es dort eigentlich all die Jahre ausgehalten, wenn Sie doch nicht auf einer Wellenlänge mit den Alteingesessenen lagen?
W.B.: Wir haben viel gearbeitet und gutes Geld dabei gemacht. Als wir alles hatten, was man zum Leben braucht, und es uns aussuchen konnten, haben wir uns gesagt, dass wir unsere Zeit lieber wieder in Russland verbringen. Die Geschäfte führt unser Sohn weiter. Unsere beiden Kinder und die sechs Enkelkinder sind ja in Deutschland geblieben.
Finden die auch, dass es dort langweilig ist?
L.B.: Nein.
Das Gespräch führte Tino Künzel.
Deutsche Namen, russische Lebenswirklichkeit
Die südrussische Ferienregion Krasnodar im Allgemeinen und das für seine kilometerlangen Sandstrände bekannte Anapa im Besonderen sind ein Vielvölkergemisch. Und das nicht erst, wenn die Urlauber aus ganz Russland kommen. Dass man hier auch ethnische Deutsche trifft, sorgt allerdings immer wieder für fragende Blicke. Ob es sich wohl um die Nachfahren von deutschen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg handele, hat man sich schon oft bei Ruslan Weber erkundigt. Er ist Vorsitzender der sogenannten Nationalkulturellen Autonomie der Russlanddeutschen in Anapa und, wie unschwer an seinem Namen zu erkennen ist, selbst Angehöriger der Minderheit.
Manchmal fragt Weber ortsansässige Russen, wie sie eigentlich nach Anapa gekommen seien. Dann stelle sich heraus: „Wenn überhaupt, sind sie meist die Ersten in ihrer Familie, die hier geboren wurden, und sogar ihre Eltern Zugewanderte. Während wir Webers jetzt in vierter Generation in Anapa leben. Und wer von uns ist also ein Einheimischer?“
Die hiesigen Russlanddeutschen haben dabei eine andere Geschichte als die von der Wolga. Ihre Urahnen kamen nicht über die Ostsee an ihre neuen Siedlungsorte, sondern wanderten aus Bessarabien und der Krim ein. Nicht besonders zahlreich und ungefähr ein Jahrhundert später, als die Besiedlung der Wolgaufer begann. 1941 teilten dann alle ein und dasselbe Schicksal: Auf Geheiß Moskaus wurden sie kurz nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion nach Sibirien und Kasachstan zwangsumgesiedelt. Die deutschen Spuren an der russischen Schwarzmeerküste sind seitdem noch etwas schwieriger zu finden als im Wolgagebiet. Aber es gibt sie.
Deutsche Familiennamen gehören dazu. Ein eigenes Selbstverständnis verbunden ist damit nicht automatisch. „Wir hatten hier 20 Jahre keinerlei organisatorischen Strukturen, das macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar“, sagt Weber. Die Deutschstämmigen sagten ihm in aller Regel: „Ich soll ein Deutscher sein? Nee, ich bin Russe.“ Das will Weber ändern. Identität soll durch Kultur, durch Sprache gestärkt werden. Und durch gemeinsame Freizeitaktivitäten. Sogar eine deutsche Fußballmannschaft wurde schon aus der Taufe gehoben.