Der vergessene Sieger

Auch 75 Jahre nach dem Kriegsende gibt es noch Geschichten von Menschen, die bisher nur wenig erzählt wurden . Eine davon ist die des Generals Iwan Susloparow, der am 7. Mai 1945 plötzlich vor der schwersten Entscheidung seines Lebens stand.

Ohne Stalins Erlaubnis: Generalmajor Iwan Susloparow unterschreibt die Kapitulation der Wehrmacht in Reims. (Foto: www.militaryhistories.co.uk)

Es ist der 7. Mai 1945, etwa eine Stunde nach Mitternacht und Iwan Susloparow ist äußerst nervös. Gerade hat der sowjetische Generalmajor ein verschlüsseltes Eiltelegramm nach Moskau abgesetzt. Dessen brisanter Inhalt: Die Deutschen wollen sich ergeben! Ohne Bedingungen! Vertragsunterzeichnung schon um 2.30 Uhr! Der 47-Jährige steht unter Druck, bittet dringend um Anweisungen. Doch Moskau schweigt. Währenddessen tobt der Krieg weiter, sterben immer noch sowjetische Soldaten im Kampf gegen das Hitler-Regime. Susloparow läuft die Zeit davon. Nervös studiert er wieder und wieder den Entwurf der Kapitulationsurkunde, sucht nach versteckten Fallstricken und einem doppelten Boden – und kann doch nichts finden. Alles ist klar und deutlich formuliert, keine List gegenüber der Sowjetunion zu erkennen. Susloparow steht vor einem Dilemma: Soll er es wirklich wagen und ohne Stalins Zustimmung unterzeichnen? Es ist die wohl schwerste Entscheidung seines Lebens. Die Uhr tickt.

Der Kampf im Osten sollte weitergehen

Ort des nächtlichen Dramas ist Reims, eine Großstadt rund 130 Kilometer nordöstlich von Paris, in der sich im Frühjahr 1945 der Stab der westalliierten Streitkräfte befindet. Seitdem Nachmittag des Vortages verhandelt hier Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower mit zwei deutschen Parlamentären. Das Angebot von Generaloberst Alfred Jodl und Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg: eine Kapitulation der Wehrmacht gegenüber den Westmächten. Der Kampf gegen die Sowjetunion solle dagegen weitergehen. Der Schritt soll noch so viel Soldaten wie möglich die Flucht in den Westen zu ermöglichen. General Eisenhower lehnt die deutschen Bedingungen ab und informiert Iwan Susloparow, den sowjetischen Verbindungsoffizier zum Stab der Westalliierten. Susloparow, seit dem Sommer 1944 Leiter der sowjetischen Militärmission in Paris, steigt umgehend ins Flugzeug. Kurz darauf trifft er in Reims ein. Dort sind die Verhandlungen ins Stocken geraten: Die Deutschen sind zu einer bedingungslosen Kapitulation nicht befugt. Generaloberst Jodl muss Großadmiral Dönitz, der nach Hitlers Selbstmord der Reichsregierung vorsteht, um Instruktionen bitten. Erst drei Stunden später – um 0.40 Uhr am 7. Mai – trifft dessen Funkspruch in Reims ein: Die Unterhändler bekommen die Vollmacht!

Schweigen im Kreml

Nun soll es schnell gehen: Die englischen und deutschen Versionen der Urkunde werden ins Reine getippt. Die Unterzeichnung der Kapitulation in einer umfunktionierten Reimser Schule wird für 2.30 Uhr angesetzt. Iwan Susloparow sendet den Text der Urkunde umgehend nach Moskau. Dann beginnt für ihn eine bange Zeit des Wartens: Niemand reagiert. Der Kreml schweigt – obwohl bekannt ist, dass Stalin auch nach Mitternacht noch arbeitet. Der Druck auf Susloparow wächst. Was soll er machen? Alles hängt nun von ihm ab. Als die Militärs wieder zusammenkommen, hat Susloparow noch immer keine Instruktionen. Sollte das Kriegsende wegen ihm platzen? Der General kann nicht länger warten – und unterschreibt. Aber er besteht auf einem Papier, das eine Wiederholung des Kapitulationsaktes ermöglicht – sofern es eine der Siegermächte fordert.

Iwan Susloparows Rolle bei der Beendigung des Zweiten Weltkrieges ist in Russland kaum bekannt. (Foto: kum-biblio.ru)

„Er hat die einzig richtige und kluge Entscheidung getroffen – ohne jegliche Rücksicht für sein eigenes Schicksal“, urteilt Alexander Sawojskij, Autor eines zehnseitigen Aufsatzes über den weitgehend vergessenen Militär. Denn Susloparow riskierte mit seinem eigenmächtigen Handeln durchaus schwerste Bestrafung. Stalin hatte Ende der 30er Jahre auch hochrangige Marschälle verhaften und hinrichten lassen. Politikwissenschaftler Sawojskij schätzt ein: „General Susloparow hat erstaunlich genau vorausgesehen, wie sich die Situation weiter entwickeln würde.“

Wiederholung in Berlin-Karlshorst

Denn tatsächlich lehnte Stalin die Kapitulation von Reims ab. Der Befehl, nicht zu unterschreiben, traf kurz nach der nächtlichen Unterzeichnung ein. Der sowjetische Diktator bezeichnete die Kapitulation als „vorläufig“ und bestand auf einer Wiederholung der Kapitulation einen Tag später in Berlin. Angesichts der Millionen Toten und der enormen Zerstörungen war Stalin nicht bereit, das offizielle Kriegsende dem Westen zu überlassen.
Zur Zeremonie in Berlin-Karlshorst schickte er eine ranghohe Delegation um den Oberkommandierenden Marschall Georgi Schukow, Journalisten, Photographen und ein Filmteam. Als einziger Unterzeichner von Reims nahm auch Iwan Susloparow teil. Wenig später verschwand der General aus dem Blick der Weltöffentlichkeit. Noch im Mai 1945 wurde Susloparow nach Moskau zurückbeordert. Einer Bestrafung entging er allerdings. Stalin höchstpersönlich hatte Innenminister Wyschinski telefonisch angewiesen, ihn in Ruhe zu lassen. Warum der Diktator Susloparows eigenmächtigen Schritt abnickte, ist nicht überliefert. Über Susloparows weiteres Leben ist nur wenig bekannt. In der sowjetischen Hauptstadt bekam er eine durchaus prestigeträchtige Stelle als Jahrgangsleiter an der 1946 gegründeten Militärdiplomatischen Akademie. Bis zur Rente 1955 hielt Susloparow Vorlesungen an der Kaderschmiede, die Militärs und Agenten für Auslandseinsätze vorbereitete. Im Dezember 1974 starb der Mann, der für eine kurzen Moment Weltgeschichte geschrieben hatte, im Alter von 77 Jahren in Moskau.

Zeit für eine Würdigung

In der Sowjetunion kannte fast niemand die Geschichte von Iwan Suslaparow. Das offizielle Gedenken richtete sich in erster Linie auf die feierliche Kapitulation in Berlin-Karlshorst. Die weniger prunkvolle Unterzeichnung in Reims kam eher am Rande vor. Mehr als 60 Jahre wurde die Urkunde mit Susloparows Unterschrift weggeschlossen – mit dem Stempel „streng geheim“. Der Name des Generals fehlte in Kriegsmemoiren und wurde auch in sowjetischen Standardwerken zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges mit keinem Wort erwähnt.
Daran änderte auch das Ende des Kommunismus wenig. Der Name Susloparow sagt den meisten Russen bis heute nichts. Die einzige nach ihm benannte Straße liegt in einem winzigen Dorf im Kirower Gebiet, der Heimat Susloparows. Erst seit Mitte der 2000er Jahre ändere sich die Situation, hat Alexander Sawojskij beobachtet. In mehreren Zeitungen erschienen Beiträge über den Militär. 2006 kam seine Geschichte in einer landesweit ausgestrahlten Sendung zum Tag des Sieges vor. Im vergangenen Jahr widmete der Radiosender „Komsomolskaja Prawda“ Susloparow einen einstündigen Beitrag. „Er hat es verdient, bekannt zu werden“, findet Alexander Sawojskij. 75 Jahre nach Kriegsende sei es Zeit, den vergessenen General öffentlich zu würdigen.

Birger Schütz

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