Der Sound der verlorenen Zukunft

Er spielt mit Anleihen aus kommunistischen Science-Fiction-Filmen, bedient sich der sowje­tischen Ästhetik der 1980er Jahre und vertont auch schon mal Breschnew-Zitate: Der sogenannte Sovietwave ist eine ziemlich spezielle Spielrichtung der elektronischen Musik. Die Betreiber des Internetradio­senders „Sovietwave.su“ erklären unter der Bedingung der Anonymität die Hintergründe des russischen Ablegers der Retrowave-Welle.

„Unser Traum“: Sovietwave schwelgt in Erinnerungen an die sowjetische Raumfahrt und Wissenschaft. (Foto: aesthetics.fandom.com)

Die meisten Deutschen haben wahrscheinlich noch nie etwas von Sovietwave gehört. Was ist das für eine Musikrichtung?

Diese Frage erschöpfend zu beantworten, ist gar nicht so einfach. Jeder Fan hat da seine eigene Auffassung. Man kann aber mit einiger Sicherheit sagen, dass Sovietwave von der sowjetischen Vergangenheit inspiriert ist. Für manche sind dies Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Für andere sind es der Wettlauf im All, der Fortschrittsglaube und die sowjetische Wissenschaft. Wichtig sind Stimmung und Atmosphäre. Sovietwave kreist um die Träume und die Erinnerungen ganz normaler Bürger, Politik und offizielle Verlautbarungen spielen keine Rolle. Stilistisch steht Soviet­wave westlichen Musikrichtungen wie Chillwave, Dreamwave und Retrowave nahe. Jedoch mit einem Akzent auf der eigenen, sowjetischen Geschichte.

Wann und unter welchen Umständen entstand der Sovietwave?

Als eine der einflussreichsten ersten Bands gilt Majak (Leuchtturm) aus Charkow. Die ersten Stücke dieser Gruppe wurden in der Zeit zwischen 2013 und 2014 veröffentlicht. Auch zwei Mini-Alben und eine Langspielplatte haben Majak damals herausgebracht. Die Namen der Musiker von Majak sind allerdings bis heute unbekannt. Und auch über die Gründe für die schließliche Auflösung der Band weiß man nichts. Jedenfalls war der Sound von Majak beispielgebend für alle nachkommenden Bands. Auch das Spiel mit der Anonymität haben viele übernommen. Trotz ihres stilprägenden Einflusses haben Majak den Sovietwave aber natürlich nicht im Alleingang begründet. Wichtig waren auch Bands wie Two­roshnoje Osero (Krasnojarsk), Electronika-302 (Kiew), Uran-08 (St. Petersburg), Kim & Buran (St. Petersburg), Inna Pivars & The Histriones (Moskau) oder Wesna na Ulitse Karla Juhana (Moskau). Heute verzeichnen wir rund 300 Bands, die sich in Klang und Themen zum Teil stark unterscheiden.

Auf den Plattencovern wimmelt es von Kosmonauten und Raumschiffen, futuristischen Propagandaplakaten aus den 1980er Jahren, die zur Eroberung des Weltraums aufrufen, und Anspielungen auf sowjetische Science-Fiction-Filme. Welche Rolle spielt der sowje­tische Utopismus?

Das ist die Nostalgie nach einer Welt, die es so nie gegeben hat. Im Englischen gibt es dafür sogar einen eigenen Begriff, die „Hauntology“ (etwa Geisterkunde). Uns gefällt der Gedanke, dass das Eintauchen in diese Musik uns dabei hilft, das sowjetische Zeitalter zu verstehen und mit den Traumata der Vergangenheit fertigzuwerden.

Viele Bands verwenden Samples von Parteitagsreden oder Zitate sowjetischer Politiker wie Chruschtschow und Breschnew. Warum?

Solche Ausschnitte geben den Kompositionen einen gewissen Ton und schaffen die richtige Stimmung, um wirklich in die Musik einzutauchen. Im konkreten Fall müsste man aber die Musiker besser selbst fragen.

Warum beschäftigen sich junge Musiker, von denen manche erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geboren wurden, mit dem sowjetischen Erbe?

Weil die Kindheit und das Leben dieser Künstler von der sowje­tischen Vergangenheit umgeben war und ist. Sie wurden zudem von Menschen aus dieser Epoche großgezogen.

Manche Bands sollen für einen möglichst authentischen Klang Soundtechnik aus sowjetischer Produktion verwenden?

Ja, das ist wahr. Viele besitzen noch elektrische Musikinstrumente aus der UdSSR. Sowjetische Synthesizer sind oft bis heute funktionstüchtig und können nach wie vor verwendet werden. Daran ist überhaupt nichts Verwunderliches. Jedoch gibt es zu ihrer Verwendung auch verschiedene Meinungen. Nicht alle finden einen möglichst authentischen Sound wichtig. Viele benutzen auch klassische Akustikinstrumente oder setzen einen größeren Akzent auf die Inhalte. Nicht jeder definiert Sovietwave als ein überwiegend elektronisches Genre.

Wer hört Sovietwave?

Unserer Statistik zufolge sind das meist junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren aus den GUS-Staaten. Das ist die Generation, welche die UdSSR schon nicht mehr bewusst erlebt hat. Aber Statistik ist eine trockene Sache und sagt vor allem etwas über die Verbreitungswege der Musik aus. Doch auch ältere Menschen finden Gefallen an Sovietwave. Für sie klingt diese Musik wie etwas Altbekanntes.

Gibt es auch Fans aus westlichen Ländern?

Ja, die gibt es. In unserer Telegram-Gruppe tauchen regelmäßig Ausländer auf, die irgendwie auf unsere Musik gestoßen und nun ganz begeistert sind. Auch die Menge der Sichtungen und Kommentare auf unserem YouTube-Kanal zeugt von einem großen Interesse im Ausland. Und das beschränkt sich nicht nur auf den Westen! Auch im Osten wird unsere Musik gehört. Sovietwave ist relativ simpel und intuitiv verständlich. Der lokale Aspekt seiner Entstehung und Themen ist kein Hindernis. Im Gegenteil! Er ist eine besonders interessante Eigenheit.

Das „Wolna“-Festival in St. Petersburg im Jahr 2018 war das erste große Treffen von Sovietwave-Bands in der Öffentlichkeit. Ein Jahr später fand „Wolna-2“ in Moskau statt. Kommt Sovietwave jetzt aus seiner Nische im musikalischen Underground?

Uns scheint, dass es ein großes Potential gibt, um Sovietwave noch populärer zu machen und die Zahl seiner Hörer zu erhöhen. Und wir werden alles tun, um dies zu erreichen. Gleichzeitig wollen wir aber auch nicht in den Mainstream abrutschen. Sovietwave sollte eine persönliche Geschichte derjenigen bleiben, denen er wirklich am Herzen liegt.

Das Interview führte Birger Schütz

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