Der Mann und das Lager: Film-Portrait eines weißrussischen KZ-Überlebenden

Eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem deutschen Freiwilligen und einem Rentner aus Minsk war der Auslöser des Dokumentarfilms „Ja, Andrej Iwanowitsch“. Das Werk erzählt weniger von den Schrecken des Konzentrationslagers Buchenwald als vom Willen zu leben.

Jedes Jahr fährt Andrej Iwanowitsch Moisejenko zur Gedenkstätte Buchenwald, um mit jungen Menschen über die Schrecken des Konzentrationslagers zu sprechen. /Foto: Privat.

Am 1. Mai wird Andrej Iwanowitsch Moisejenko 92 Jahre alt. Er verbringt sehr viel Zeit auf der Datscha. Manchmal trifft er sich mit seinen Freunden und zwei Mal in der Woche arbeitet er als Wächter. Eigentlich spricht der alte Herr ungern über sich. Aber Hannes Farlock gelang es, Andrej Iwanowitsch zum Reden zu bringen und es auf Band festzuhalten. Der Dokumentarfilm „Ja, Andrej Iwanowitsch“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der mit 17 Jahren Gefangener des Konzentrationslagers Buchenwald wurde und es geschafft hat, seinen Peinigern zu verzeihen.

„Gäbe es Andrej Iwanowitsch nicht, dann gäbe es auch den Film nicht“, sagt der Regisseur Hannes Farlock. So einfach ist die Gleichung. Den Protagonisten des Filmes lernte er vor fünf Jahren kennen, als er für einen Job in der IT-Branche nach Weißrussland zog. In seiner Freizeit begann er die historische Werkstatt zu besuchen – ein deutsch-weißrussisches Projekt, das Opfer des Nationalsozialismus unterstützt. Dort half er, Deutsch zu unterrichten. Sein neugierigster Student war Andrej Iwanowitsch. Also blieb er nach dem Unterrichtsschluss, um dem alten Herrn zusätzlich ein paar nicht verständliche Aspekte der deutschen Grammatik zu erklären. Der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft. „Vielleicht hat ihm etwas an mir gefallen“, fasst Andrej Iwanowitsch seine Bekanntschaft mit dem Regisseur in Kürze zusammen.

Schrecken des Konzentrationslagers

Der 91-Jährige begann nicht von ungefähr, Deutsch zu lernen: Jedes Jahr fährt er zur Gedenkstätte Buchenwald, um am Tag der Befreiung des Konzentrationslagers mit Schülern und Studenten in ihrer Muttersprache zu sprechen. Doch es gab mal eine Zeit, da wollte sich Andrej Iwanowitsch nicht an die Ereignisse jener Zeit erinnern, zu schmerzhaft waren die Erinnerungen. Aber die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden.

Trotz der schrecklichen Vergangenheit bleibt Andrej Iwanowitsch Optimist. /Foto: Privat.

Andrej Iwanowitsch war im KZ Buchenwald ein Jahr lang gefangen gewesen – von Mai 1944 bis April 1945. Er ist in einem Dorf, das 150 Kilometer von Kiew entfernt ist, geboren. Er war das älteste von vier Kindern. Die Mutter starb an Typhus, als er sechs Jahre alt war. Der Vater heiratete ein zweites Mal, in der zweiten Ehe wurden noch zwei Kinder geboren. Doch das Familienglück währte nicht lange: Das Oberhaupt musste an die Front. Aus dem Krieg kehrte der Vater nie zurück. Die Stiefmutter starb im Artilleriegefecht und Andrej Iwanowitsch wurde als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Zuerst arbeitete er in einer Rüstungsfabrik in Leipzig. Zwei Jahre später sah er sich hinter dem Stacheldraht von Buchenwald wieder.

„Wissen Sie, welchen Ausgang es dort gab? Nur über den Schornstein des Krematoriums“, sagt Andrej Iwanowitsch ruhig. In gewisser Weise hatte er Glück gehabt: Die älteren Gefangenen hatten Mitleid mit dem Jungen, teilten ihr Essen mit ihm, schützten ihn vor Schlägen. „Als ich dort das letzte Mal war, bat ich Mitarbeiter der Gedenkstätte, dass sie mir meine Akte aus dem Archiv zeigen. Anscheinend war ich als Nächster an der Reihe ins Krematorium. Wenn die Amerikaner das Lager nicht befreit hätten, dann…“ Den Gedanken führt Andrej Iwanowitsch nicht aus. Dann hätte es nicht die zwei Söhne und 38 Jahre Arbeitserfahrung als technischer Zeichner in einem Ingenieur-Büro gegeben, dann hätte es die Treffen mit Hannes Farlock und den Dokumentarfilm nicht gegeben.

Alltag eines Zeitzeugen

„Mich hat es immer erstaunt, dass Andrej Iwanowitsch sich weder beschwert noch schimpft und immer ein Optimist ist. Der Film ist ein Versuch, zu verstehen, warum das so ist. Auch nach Jahren der Bekanntschaft bleibt Andrej Iwanowitsch für mich ein Rätsel“, gesteht Farlock. Zusammen mit dem weißrussischen Kameramann Denis Sokolowskij filmten sie für Andrej Iwanowitsch wichtige Ereignisse: die Eröffnung der Datscha-Saison, die Ernte, das Treffen mit Familie, Freunden und seiner Liebe, den Deutschunterricht und die Fahrt nach Buchenwald. Erzählt wird aus der ersten Person. Andrej Iwanowitsch spielt für den Zuschauer den Fremdenführer durch sein eigenes Leben. Der Film gibt aber auch einen Einblick in das Alltagsleben in Weißrussland, das dem deutschen Zuschauer wohl kaum bekannt ist.

Datscha-Saison ist eröffnet: Andrej Iwanowitsch auf dem Weg in seinen Garten. /Foto: Privat.

Der Titel „Ja, Andrej Iwanowitsch“ gibt das zu verstehen. Ist das „Ja“ im Titel in der deutschen Version als Ermutigung gedacht, soll die russische Lesart, wo das „Ja“ für das Wort „Ich“ steht, Andrejs selbstbewusste Haltung zur Welt betonen.

Der Film, den Farlock komplett aus eigener Tasche finanziert hat, wurde bereits in Buchenwald, Leipzig und in der Heimatstadt des Regisseurs, Höchstadt, gezeigt. Anwesend war auch immer Andrej Iwanowitsch. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Menschen zur Vorführung kommen werden. Als ob die paar Szenen aus dem Alltag eines ehemaligen Gefangenen jemanden interessieren würden“, sagt der Held des Filmes. Aber die Leute kamen und dankten. In Moskau wird die Aufführung am 30. Mai um 19 Uhr an der Deutschen Schule stattfinden. Mehr Infos unter andrei-iwanowitsch.com.

Zur Person: Hannes Farlock

Hannes Farlock (36) ist Regisseur und Ideengeber des Films. Seinen Zivildienst absolvierte er im polnischen Krakau und kümmerte sich um ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz. Er studierte Management und hat einen Master in „Russland-Studien“ absolviert. Er arbeitet heute für die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer. Dort ist er Leiter der Geschäftspartnervermittlung und Veranstaltungsorganisation

 

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