
In Statistiken zu Grünflächen schneidet Moskau meist gut ab. Für den Besucher, der sich in der Innenstadt auf Schritt und Tritt von Beton umgeben sieht, mag das etwas unwahrscheinlich klingen. Aber der Moskauer weiß: Grün ist reichlich vorhanden, nur eben relativ ungleich verteilt. In der Ortsmitte gibt es mit Ausnahme einiger weniger Oasen nicht sonderlich viel davon, weiter draußen dafür umso mehr. Bisweilen sind die grünen Flecken der Stadt mit dem Begriff „Park“ nur unzureichend beschrieben. Vielerorts handelt es sich um Waldgebiete, wie man sie einer Metropole nicht unbedingt zutrauen würde. Auch Moskau hat also seinen Anteil daran, dass Wälder in Russland knapp 50 Prozent der Landesfläche ausmachen, nach manchen Quellen sogar 70 Prozent. In Deutschland ist es etwa ein Drittel.
32 Parks, ein Weg
Wenn man nun einen Stadtplan von Moskau hernimmt und sich diese grünen Punkte anschaut, dann sieht man, dass die Übergänge zwischen ihnen fließend sind. Bei entsprechender Streckenführung kann der Spaziergänger, Wanderer, Jogger, Fahrradfahrer oder auch – im Winter – Skilangläufer an einer Stelle in die Natur ein- und lange nicht wieder auftauchen. Ausgehend von dieser Erkenntnis hat der Moskauer Vielreisende Alexander Sowetow vor einigen Jahren den „Grünen Ring Moskau“ erfunden, einen 160 Kilometer langen Rundweg, der 32 Parks und sonstige Grünanlagen miteinander verbindet.
Das heißt nicht, dass Sowetow selbst etwas angelegt oder markiert hätte. Sein Verdienst besteht darin, eine Route ausfindig gemacht zu haben, die Straßen, Verkehr und Lärm maximal meidet. Eingezeichnet auf einer digitalen Karte, steht sie zum Download bereit und kann mit der App Maps.me geöffnet werden. Wer will, der nimmt sich die Strecke als Ganzes vor und teilt sie sich in beliebig viele Etappen auf. Man kann sich aber auch nur einzelne Abschnitte herauspicken, zum Beispiele solche, die in Wohnnähe liegen oder besonders malerisch sind. Meist geht es über Stock und Stein, es sind jede Menge Waldwege dabei, aber auch Uferpromenaden, Brücken, kleinere Straßen, Fußwege und Unter- oder Überführungen. Eine Facebook-Gruppe sammelt Erfahrungsberichte und die überwiegend begeisterten Kommentare.
Nicht möglichst schnell möglichst weit
In einem Ritt ist der gesamte Ring selbst mit dem Fahrrad kaum zu bewältigen. Aber das ist auch nicht Sinn und Zweck der Sache. Die Route wurde nicht zuletzt so gewählt, dass sie Futter für die Augen ist, allerlei Aussichtspunkte und Sehenswürdigkeiten einschließt. Man bleibt deshalb immer wieder stehen, um sich umzuschauen, Fotos zu schießen oder sich zu notieren, wozu man später unbedingt mehr Informationen einholen möchte. Das gute Gefühl, mit dem man anschließend nach Hause kommt, wird jedenfalls eher weniger vom Kilometer- oder Schrittzähler gespeist.
Man sollte sich generell nicht zu viel vornehmen. Der Vorteil dieses Naturpfads vor der eigenen Haustür besteht auch darin, dass man es nicht eilig haben muss. Schließlich kann man die Tour in aller Ruhe ein andermal fortsetzen.
Unvermutete kleine Paradiese
Der „Grüne Ring“ verläuft teils relativ zentrumsnah, etwa am Siegespark oder auf den Sperlingsbergen, teils kratzt er fast schon an der Ringautobahn, die traditionell den Stadtrand markierte (was heute nicht mehr überall der Fall ist). Eines der häufigsten Motive unterwegs ist die Moskwa, auf die man immer wieder stößt. Für die größeren Überraschungen sorgen aber kleinere Flüsse wie Setun oder Otschakowka, die sich in Schluchten hinter Wohnblocks verstecken, beispielsweise in der Nähe der Deutschen Botschaft. Selbstständig würde man sich auf die Rückseite dieser Häuser kaum verirren – und viel verpassen. Denn dort trifft man Einwohner beim Picknick, Angler, Mütter, die sich vom Kinderwagenschieben ausruhen, und teils geradezu wilde Natur. Das Wort vom Großstadtdschungel erhält damit einen ganz neuen Klang. Diese kleinen Paradiese sind so ziemlich die größte Entdeckung, die man auf dem „Grünen Ring“ machen kann.
Manchmal wird es auf andere Weise abenteuerlich, wenn nämlich das Handy keinen Internetempfang hat, was im Unterholz des Troparjowo-Parks kurz vor der Ringautobahn schon mal passieren kann, und der eigene Standort auf der digitalen Karte nicht so recht zu den örtlichen Gegebenheiten passen will. Hat man sich vielleicht verlaufen? Man würde ja vielleicht jemanden fragen, aber es ist mindestens schon eine halbe Stunde her, dass man zum letzten Mal andere Parkbesucher gesehen hat.
Ohne Karte geht es nicht
In solchen Momenten kann ein wenig eigener Orientierungssinn nichts schaden. Alternativ kann man natürlich auch einfach draufloslaufen oder -fahren. Denn egal, für welche Richtung man sich entscheidet, über kurz oder lang stößt man garantiert auf Häuser oder Straßen. Moskau ist dann doch keine Taiga, in der man verlorengehen könnte.
Schwieriger ist es da schon, immer Kurs zu halten. Um es noch einmal zu betonen: Die Strecke ist nicht markiert. Man ist darauf angewiesen, die eigene Position häufig mit der Karte im Handy abzugleichen und sich jeweils über den weiteren Streckenverlauf klar zu werden. Das funktioniert nicht in jedem Falle fehlerfrei, mitunter braucht es dann ein bisschen, um wieder auf den richtigen Weg zurückzufinden. Aufgeschmissen ist man dagegen, wenn das Telefon unterwegs schlappmacht, denn ohne Karte geht nichts. Ausreichend Saft sollte deshalb vor dem Start sichergestellt werden, damit die grüne Expedition später nicht vorzeitig endet. Denn das wäre doch zu schade.
Tino Künzel