Das schnelle Moskau langsam entdecken

Moskauer gehen nicht zu Führungen im Kreml. Wenn sie ihre Stadt erkunden, dann richtet sich das Interesse weniger auf die großen Namen unter den Sehenswürdigkeiten als auf die versteckten Reize der Metropole. Spaziergänge mit Kennern führen an solche Schauplätze in historisch bedeutenden Vierteln. Natürlich sind auch Nicht-Einheimische willkommen.

Bei einem Stadtbummel in Moskau kann man viel Neues über Altes erfahren. (Foto: Pressedienst der Vereinigung der Kulturzentren im Zentralen Stadtbezirk)

Ein Mittwochabend, Metrostation Baumanskaja. Es ist voll, die meisten wollen möglichst schnell nach Hause. In diesem Feierabendverkehr fällt eine mit Regenschirmen ausgerüstete Gruppe auf, die es nicht eilig hat. Sie wird sich heute von Fremdenführerin Jekaterina Bykowa die Nemezkaja Sloboda (Deutsche Vorstadt) zeigen lassen, ein früheres Ausländerviertel.

Die Tour ist Teil des Programms „Welt der Exkursionen“. Seit drei Jahren werden von städtischen Bibliotheken kostenlose Stadtspaziergänge angeboten, immer mittwochs und vorerst noch bis Mitte Oktober. Die Rundgänge starten jeweils 19 Uhr und dauern in der Regel anderthalb bis zwei Stunden.

Zu Fuß durch die Nemezkaja Sloboda

Die Führung durch die Nemezkaja Sloboda ist eine von 14, für die sich Neugierige entscheiden (und voranmelden) können. Sie ist unter Mitwirkung einer Bibliothek entstanden, die den Namen der ehemaligen sowjetischen Kulturministerin Jekaterina Furzewa trägt. Zu den Stationen der Tour gehören unter anderem der deutsche Markt, das Anna-Mons-Haus, der Lefortowo-Palast, der Sloboda-Palast und die Holland-Kirche. Die Teilnehmer haben Gelegenheit, die ungewöhnliche Fassade einer Zarenresidenz, eines der ersten Gebäude des Jugendstil-Genies Fjodor Schechtel und den ältesten Bau in der Baumanskaja-Straße zu besichtigen.

„Die Nemezkaja Sloboda erlangte Mitte des 16. Jahrhunderts erste Bekanntheit“, erzählt Jekaterina Bykowa. Iwan der Schreckliche habe damals gefangen genommene Livländer hierher geschickt. „Um sie nicht auf Kosten der Staatskasse unterstützen zu müssen, erlaubte er ihnen, Bier zu brauen und Wein zu verkaufen.“ Historiker glauben, dass der russische Ausdruck, sich in einen „Sapoj“ zu begeben, also einen über Tage oder Wochen anhaltenden Zustand ständiger Trunkenheit, in der Nemezkaja Sloboda entstanden ist. Seinerzeit galt in Moskau ein strenges Alkoholverbot. „Wenn jemand trotzdem trinken wollte“, so Bykowa, „dann tat er das in der Sloboda und kehrte nach ein paar Tagen wieder in die Stadt zurück.“

Wo die Ausländer in Moskau lebten

In der Nemezkaja Sloboda lebten aber nicht nur Deutsche, wie der Name nahelegt, sondern auch Schweden, Dänen, Franzosen, Engländer, Niederländer, Italiener und Spanier. Für die Moskowiter waren alle Westeuropäer „Nemzy“. Sie galten den Einheimischen als „nemyje“ (stumm), weil sie kein Russisch sprachen. Heute wird das Wort „Nemzy“ nur für die Deutschen gebraucht.

Die Sloboda wurde hauptsächlich von Ausländern bewohnt, die der Arbeit wegen nach Moskau kamen: Das Russische Reich brauchte qualifizierte Fachkräfte. In der Vorstadt wurde der Dichter Alexander Puschkin geboren, sie war zudem ein Lieblingsort von Peter dem Großen. Dank seiner Bemühungen trafen sich hier die Moskauer und die westliche Welt.

„Wären Sie und ich in alter Zeit in der Nemezkaja Sloboda gewesen“, fährt Jekaterina Bykowa fort, „dann hätten wir eine Gegend gesehen, die an eine holländische oder deutsche Kleinstadt erinnert: mit weißen Häusern an schnörkellosen Straßen“. Das Straßenmuster ist bis heute erhalten geblieben. Das Viertel um die Baumanskaja-Straße, wo sich die Sloboda befand, hat sich damalige Grundrisse, Holz- und Steinbauten vergangener Epochen und eine wunderbare Atmosphäre bewahrt.

250 Führungen in historischen Stadtvierteln

Insgesamt wurden für die „Welt der Exkursionen“ bereits 250 Führungen zusammengestellt. Neben der Nemezkaja Sloboda standen auch schon die Jakimanka, der Arbat, Samoskworetschje und andere historische Stadtviertel auf dem Programm. Interessierte erfahren, wo der Schriftsteller Michail Bulgakow lebte und der Maler Isaak Lewitan arbeitete. Moskau-Forscher und Lokalhistoriker erzählen dabei jeweils von den Geheimnissen der Stadt, berühmten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, dem literarischen Leben und der Entwicklung Moskaus über die Jahrhunderte.

„Wir machen die Teilnehmer mit einzigartigen und wenig bekannten Objekten auf der Landkarte bekannt“, sagt Anna Andrijanenko von der Vereinigung der Kulturzentren Moskaus. Die Nemezkaja Sloboda sei dafür ein schönes Beispiel. „Alles dort ist geschichtsträchtig. Und es ist eine Geschichte, die man erzählen möchte.“

Eine Übersicht kommender Führungen finden Sie hier:

cbscao.ru/events/ekskursionnaya-sreda-v-moskve

Jekaterina Janowskaja

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