Dagestan: Unterschätztes Wunderland

Nach Dagestan reisen? Viele halten das für keine gute Idee. Dazu gehört auch das Auswärtige Amt, das davon abrät. Russlands südlichste Republik gilt als Keimzelle islamistischen Terrors. Doch der von US-Amerikanern geführte Reiseblog „Beyond Red Square“ ermuntert ausdrücklich zu einem Besuch. Und auch unser Autor war von wilder Natur, reicher Kultur und ausgeprägter Gastfreundschaft überwältigt. Nun will er eine Lanze für die Region brechen.

Dorf mit Aussicht: Chunsach liegt auf einer Kaukasus-Hochebene. © Alice Hörner

Verhüllte Frauen in bunten Gewändern, Muezzin-Rufe in der staubigen Luft und Meersalz in der Nase: Ein Spaziergang in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala hält zahllose Eindrücke bereit  – auch solche, die auf den ersten Blick gar nicht zu Russland zu passen scheinen.

Hätte Dagestan einen besseren Ruf, es wäre längst von Touristen überrannt. Die Region hat auf einer Fläche von der Größe Niedersachsens alles zu bieten, was das Herz des Reisenden begehrt: einsame Strände am Kaspischen Meer, grüne Berge und wilde Schluchten, die höchsten Dünen Europas und eine unglaublich vielfältige Kultur. Wikipedia listet 40 Volksgruppen, 14 offizielle Sprachen und 80 regionale Dialekte – die teilweise nur in einem Dorf gesprochen und verstanden werden.

Auf Tour im Hochland

„Stell dir vor, du wirst hier in einem Bergdorf geboren“, holt unser Führer und Gastgeber Renat aus, während er sein Auto an einer auf der Straße stehenden Kuh vorbeilenkt. „Du musst erst einmal zwei Sprachen lernen, bis du überhaupt im Alltag klarkommst. In der Schule lernst du dann Russisch, aber für Englisch oder eine andere wirtschaftlich sinnvolle Sprache ist kein Raum mehr.“ 

Wir sind auf einem Zwei-Tage-Trip in den Bergen unterwegs. Renat ist Couchsurfer und Touristenführer. Eine ideale Kombi: Weil er so sympathisch ist, entscheiden sich die meisten Gäste sofort für eine Tour mit ihm.

Vorbei an Schafs-, Ziegen- und Kuhherden schlängelt sich die Straße die kaukasischen Berge empor. Nur eine halbe Tagesreise von Machatschkala liegen Schönheiten wie der Sulak-Canyon mit seinem azurblauen Wasser oder das an einem Senkrecht-Abhang gelegene Dorf Chunsach. Aber auch bei den Fahrten dazwischen kann man den Blick kaum vom Seitenfenster abwenden, so schön ist die Landschaft.

Ein Landstrich mit schlechtem Leumund

Wir kommen auf das schlechte Image Dagestans zu sprechen.  „Immer, wenn ein Kaukasier ein Verbrechen begeht, wird das in den Medien im ganzen Land aufgeblasen“, sagt Renat missmutig. „Aber immerhin zieht gerade die Ukraine alle Aufmerksamkeit auf sich, so dass wir mal ein wenig Ruhe haben.“ Wir passieren einen Posten der russischen Armee. In der Hauptstadt Machatschkala war von Militärpräsenz nichts zu spüren, aber hier oben werden Stützpunkte betrieben und Bergpässe kontrolliert. Nach wie fordern Gefechte zwischen Untergrundkämpfern und Soldaten jedes Jahr Tote.

Stadt mit Geschichte: Derbent ist UNESCO-Weltkulturerbe. © Alice Hörner

Über 90 Prozent der drei Millionen Einwohner Dagestans sind Muslime. Eine kleine Minderheit von ihnen versetzt das übrige Land in Angst und Schrecken. Für viele der in den letzten Jahren verübten Anschläge zeichnen Islamisten aus Dagestan verantwortlich. Mehr als 1000 von ihnen sollen nach Syrien gezogen sein, um dort für den IS zu kämpfen. „Der radikale Islam hat hier ein ideologisches Loch gefüllt“, meint Renat. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion habe es so etwas wie religiösen Extremismus nicht gegeben. Unser Gastgeber will eines klarstellen: „Gegen die Fundamentalisten sind wir alle.“ Die dagestanische Bevölkerung wolle keine Unabhängigkeit von Russland. „Was sollen wir denn allein?“

Viel gefährlicher als der Terrorismus scheint ohnehin eine andere Sache zu sein: der Fahrstil der Dagestaner. Die Autoren aller vorab zu Rate gezogenen Reiseberichte sind sich einig: Autofahren im Kaukasus ist lebensgefährlich. Es wird gehupt und gedrängelt und auch in den kurvigsten Bergpässen munter überholt. Das kann nur funktionieren, weil jeder Fahrer jederzeit mit Gegenverkehr auf der eigenen Spur rechnet – und in diesem Falle rechtzeitig sein Auto zur Seite reißt. Trotzdem kommen wir in drei Tagen an zwei leichten und einem schweren Unfall vorbei. Renat wiegelt unsere Bedenken ab: „Die schlimmsten Fahrer sind die Georgier auf der anderen Seite des Kaukasus. Das solltet ihr erst erleben.“

Hilfsbereitschaft in der Fremde

Heute friedlich, im Kaukasuskrieg 1847 umkämpft: Bergdorf Salta © Alice Hörner

Wir machen halt in einer Stolowaja irgendwo in den Bergen. „Sprecht lieber nicht Russisch“, weist uns Renat an. Er selbst kommt aus der Großstadt Machatschkala – die Bergbewohner sind auch für ihn Fremde, wie er erzählt. Einige hätten Vorbehalte gegen Russen. Wir sprechen also Deutsch und erregen umso mehr die Aufmerksamkeit des Nachbartisches, an dem vier Männer um einen großen Brotkorb sitzen. Sie lächeln uns herzlich zu und wollen wissen, woher wir kommen. Wie sich herausstellt, war einer von ihnen als junger Soldat zwei Jahre in Potsdam stationiert.

Die Männerrunde in der Kantine soll keine Ausnahme gewesen sein. Überall in Dagestan begegnen uns die Einheimischen offenherzig, interessiert und hilfsbereit. Und das in jeder Situation. Im Supermarkt rät mir die Verkäuferin von meinem Wasser-Kauf ab und weist auf das günstigere Produkt. Als wir in Machatschkala zwei junge Männer nach dem Weg fragen, werden wir nicht nur zum richtigen Bus gebracht, die beiden lassen sich beim besten Willen nicht davon abhalten, uns die Fahrt zu bezahlen. Und im Bus selbst werden wir sofort von drei Einheimischen umringt, die sich mit den besten Strand-Empfehlungen überschlagen.

Ähnliche Erfahrungen machen nicht nur wir Deutschen, sondern auch Russen. „Trampen ist hier offizielles Verkehrsmittel“, scherzt Wassja, der per Anhalter durch den Kaukasus reist. Nicht nur finde er mühelos Mitfahrgelegenheiten, auch passiere es schnell, dass man nach der Fahrt noch zum Abendessen eingeladen werde.

Auch Lena aus Sibirien hat viel für Dagestan übrig. „Hier ist Familie wenigstens noch wichtig und die Männer sind treu“, sagt sie. Die junge Frau reist gerade allein durch Dagestan, explizit mit dem Ziel, einen kaukasischen Ehemann zu finden.

Auf Sand gebaut: Die Sarykum-Düne ist bis zu 262 Meter hoch. © Alice Hörner

Wir finden während unserer Reise zwar keine Lebensgefährten, gewinnen aber Eindrücke fürs Leben. Das verlassene Dorf Gamsutl, das mit seinen steinernen Ruinen auf einer Felskuppe an die Inkastadt Machu Picchu erinnert. Derbent, die älteste Stadt Russlands mit ihrer jahrtausendealten Steinfestung am Kaspischen Meer. Oder das Bergpanorama auf dem Keger-Plateau, wo wir am Lagerfeuer eine Nacht unter den Sternen verbringen, unter uns die schummrigen Lichter des Gebirgsdorfes Gunib. Dagestan ist ein Wunderland, nur zweieinhalb Flugstunden von Moskau entfernt.

Dominik Kalus

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