Das Projekt der Baikal-Amur-Magistrale kann nicht uneingeschränkt als ein sowjetisches Vorhaben bezeichnet werden. Die Idee, eine Eisenbahn von Ostsibirien zum Pazifischen Ozean zu bauen, die den Baikalsee von Norden her umfahren sollte, entstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Das Urteil der Expedition von 1889 war jedoch enttäuschend: „Wegen technischer Schwierigkeiten definitiv unmöglich“. Sicherlich hatte Russland zu diesem Zeitpunkt gelernt, Schienen zu verlegen. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Transsibirische Eisenbahn gebaut: 7000 Kilometer Gleise in derselben Region, aber sie umging den Baikalsee von Süden her. Die Nordroute war für die Erbauer nicht zu bewältigen.
Unerschöpfliche Quelle von Arbeitskräften
Doch die Idee blieb bestehen. 1932 griff die sowjetische Regierung das Projekt wieder auf. Die Macht und die Methoden änderten sich: Das Problem des Mangels an Arbeitskräften für die Verlegung der Gleise fand eine Lösung, indem man Lagerinsassen zur Arbeit schickte. Lange bevor junge Menschen aus der ganzen Sowjetunion auf die Komsomol-Baustelle kamen, wie man die BAM in den 1970er Jahren nannte, waren dort bereits viele Kilometer Schienen verlegt worden. Nach Stalins Tod kam es im April 1953 zur Auflösung des Amurlag, aber bis dahin kamen beim Bau der BAM Gulag-Häftlinge aktiv zum Einsatz.
Gute Gehälter aber vor allem Romantik
In den 1970er Jahren reisten die Menschen freiwillig und bereitwillig an die Baikal-Amur-Magistrale. Man kann sie verstehen. Das Ausmaß der Bauarbeiten war erstaunlich: 4300 Kilometer Bauarbeiten mit elf durchgängig fließenden Flüssen und sieben großen Gebirgszügen entlang der Strecke. Allein der Seweromuisker Tunnel mit einer Länge von 15.343 Metern war ein echter Brocken! Sein Bau begann im Mai 1977, und erst im Mai 2001 war er fertiggestellt. Die großen Aufgaben und die sibirische Romantik zogen die Menschen an. Und einige ließen sich von den sehr guten finanziellen Bedingungen locken: Der Durchschnittslohn eines BAM-Arbeiters betrug 322 Rubel, während die Gehälter junger Fachkräfte mit Hochschulausbildung im europäischen Teil der Sowjetunion zwischen 65 und 130 Rubel lagen.
Die sowjetische Führung sparte nicht mit Geld für die Magistrale und ihre Erbauer. Die beste Ausrüstung wurde in den Osten geschickt. Im Rahmen des Delta-Projekts erhielt die Sowjetunion Tausende westdeutscher Lastkraftwagen, Zugmaschinen und Tieflader-Auflieger, die hauptsächlich beim Bau der BAM Einsatz fanden. Der Auftrag kostete die Sowjetunion 1,1 Milliarden D-Mark. In Preisen von 1991 beliefen sich die Gesamtkosten für den Bau der BAM auf 17,7 Milliarden sowjetische Rubel. Es ist das teuerste Infrastrukturprojekt in der sowjetischen Geschichte.
Es geht weiter: Modernisierung und Ausbau
Diskussionen, inwieweit solche Investitionen gerechtfertigt sind und ob ein solches Projekt überhaupt notwendig ist, gab es immer wieder. Besonders heftig war die Kritik an diesem Megaprojekt in den 1990er Jahren, als sich die fertiggestellte Strecke als unnötig erwies. Es gab einfach nichts, was diese Eisenbahn transportieren konnte, denn man hatte nur eines von Dutzenden riesigen Industrieunternehmen in der Region gebaut. Doch heute erlebt die Baikal-Amur-Magistrale eine Renaissance. Im Mai dieses Jahres genehmigte das Ministerkabinett die dritte Phase der Modernisierung der BAM und der Transsibirischen Eisenbahn. Die Finanzierungsbeträge sind exorbitant. Dennoch bezeichnen einige Experten dieses Projekt als alternativlos: Es ist nicht sicher, dass die Handelsbeziehungen mit Europa auch nach 2030 vollständig wiederhergestellt sein werden. Exporte nach Asien werden zu einer strategischen Frage. Der Bau der BAM muss weitergehen. Man muss nur dringend Komsomolzen finden, die dazu bereit sind. Oder Inhaftierte.
Die „Magistrale“
Ich kenne dieses Buch noch aus meiner Kindheit. Zusammen mit seinem Freund und Mitverfasser Vitali Gerbatschewski bereiste mein Vater 1974 die gesamte im Bau befindliche Baikal-Amur-Magistrale (BAM). Das Ergebnis dieser Reise war eine Sammlung von Aufsätzen. Aber es ist heutzutage nicht leicht, die „Magistrale“ zu lesen.
Es scheint, als sei es im Eilverfahren geschrieben worden, als hätten die Autoren versucht, mit dem Rhythmus der riesigen Baustelle Schritt zu halten. Andererseits haben die Autoren nicht gezögert, eine russische Sprache zu verwenden, die manche Leser an einigen Stellen nur schwer verstehen können. Im Allgemeinen gehört das Buch in eine andere Zeit. Aber genau das lässt einen diese Zeit und diesen Ort spüren. Man liest das Buch und entdeckt, wie dieses Jahrhundertprojekt wirklich war. Man beginnt, den Puls des Eisenbahnbaus zu spüren. Vor allem aber beginnt man, die BAM-Menschen zu verstehen.
So würden es wohl die Redakteure der MDZ machen. Wir würden auch diejenigen fragen, die in diese rauen Landstriche gereist sind, was sie bewegt hat. Und was diejenigen von der herannahenden Zivilisation halten, die seit Jahrhunderten auf diesem Land leben. Diese Arbeit leisteten 1974 die Mitautoren der „Magistrale“. Das Buch hat nun eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in meinem Bücherregal.
Igor Beresin