Wer Europameister werden will, muss die Nationalmannschaft der Ukraine erst einmal schlagen. Die Deutschen haben das Anfang Juni nicht geschafft. 0:0 hieß es in einem Testspiel in Nürnberg. Ein Stimmungsdämpfer für die DFB-Elf, ein Achtungserfolg für die Gäste, die sich als unbequemer Gegner erwiesen. Zwar hatten sie bei einigen deutschen Großchancen auch das Glück auf ihrer Seite, verteidigten das Meiste aber durchaus clever weg und waren bei einigen Kontern kreuzgefährlich.
Dovbyk und andere Asse
Überraschen konnte das nicht wirklich. Waren Auswahlmannschaften der Ukraine in der Vergangenheit bis auf wenige Ausnahmen meist zu ungefähr gleichen Teilen mit Spielern von Dynamo Kiew und Schachtar Donezk besetzt, so ist die jetzige Mannschaft gespickt mit Profis, die in ausländischen Top-Ligen ihr Geld verdienen und dort alles andere als Mitläufer sind. Entsprechend selbstbewusst tritt das Team auf.
Merken sollte man sich zum Beispiel den Namen Artem Dovbyk. Der 26-jährige Angreifer wurde in seiner Premieren-Saison in der spanischen „La Liga“ gleich bester Torjäger, trotz äußerst namhafter Konkurrenz von Robert Lewandowski (Barcelona) bis zu Vinicius Junior (Real Madrid). Dovbyks 24 Tore trugen maßgeblich dazu bei, dass sein Klub FC Girona zu einer der größten Überraschungen im europäischen Fußball schlechthin avancierte und die Saison in Spanien als Tabellendritter beendete. Dabei wusste er im Sturm mit Viktor Tsygankov (26) einen weiteren ukrainischen Nationalspieler an seiner Seite. Beim 7:0 gegen Granada am letzten Spieltag der Meisterschaft gingen allein fünf Tore auf das Konto dieses Duos.
Trainer ist eine Stürmerlegende
Schon länger im Rampenlicht stehen Mykhailo Mudryk (23) vom FC Chelsea und Oleksandr Zinchenko (27) vom FC Arsenal aus der englischen Premier League. In die Schlagzeilen gespielt hat sich in den letzten Monaten auch Torhüter Andriy Lunin (25) von Real Madrid, der in der Champions League teils spektakuläre Spiele ablieferte. Doch gegen Deutschland hinterließ auch Anatoliy Trubin (22) von Benfica Lissabon einen exzellenten Eindruck.
Trainer Serhiy Rebrov (50), einstige Stürmerlegende von Dynamo Kiew und bis heute Rekordtorschütze der ukrainischen Liga, konnte es sich gegen die Deutschen sogar erlauben, Dovbyk erst in der Schlussphase einzuwechseln, genauso wie den offensiven Mittelfeldmann Heorhiy Sudakov (21) von Schachtar Donezk. Der gilt als das nächste Riesentalent aus der Ukraine und soll auf dem Einkaufszettel renommierter ausländischer Klubs stehen.
Machbare EM-Gruppe
Die Ukraine hatte sich erst in Playoff-Spielen für die EM qualifiziert, allerdings auch eine denkbar schwere Vorrundengruppe mit England und Italien erwischt. Am Ende stand ein dritter Platz zu Buche, punktgleich mit dem amtierenden Europameister Italien. Sowohl den Italienern als auch den Engländern trotzten die Ukrainer zu Hause Unentschieden ab.
Bei der EM trifft die Ukraine nun in ihrer Gruppe E auf Belgien, Rumänien und die Slowakei. Das sollten lösbare Aufgaben sein, um möglichst lange im Turnier zu bleiben. Vorteil Ukraine: Die vielen ukrainischen Flüchtlinge im Land könnten in den Stadien für Heimspielatmosphäre sorgen.
Übertragung in Russland
Die russische „Sbornaja“ fehlt dagegen bei der EM: Wie die Klubs aus Russland ist sie seit 2022 für alle internationalen Wettbewerbe gesperrt. Bis zuletzt war sogar unklar, ob die EM in russischen Fernsehen überhaupt gezeigt wird. So hatte sich der Duma-Abgeordnete Roman Terjuschkow Ende Mai dagegen ausgesprochen, die „sportliche Vergnügungen unfreundlicher Länder“ zu „propagieren“.
Kurze Zeit später wurde jedoch bekannt, dass die EM vom Sportsender Match-TV im Free-TV und vom Streamingdienst Okko übertragen wird. Die Kommentatoren sitzen dabei in Russland.
Tino Künzel