Ein Industriegebiet, ein in Beton eingefasster künstlicher Teich in einer Hochhaussiedlung, ein Elektritschka-Bahnhof irgendwo vor Moskau. Totalen und Supertotalen, in denen Figuren auftauchen und wieder verschwinden, meist zu klein, um ihre Gesichter zu erkennen. Eine von ihnen schaut sich genau um, bevor sie ein Päckchen im Boden vergräbt.
Restriktion statt Prävention
Mit solchen Bildern inszeniert der Film „Obchodnye puti“ („Umwege“), der zuerst im September 2021 bei der Venice International Film Critics’ Week gezeigt wurde und nun auch in Russland startete, Drogengeschäfte im zeitgenössischen Russland. Diese erfolgen heute meist über das Darknet. Die dort bestellten Substanzen verstecken sogenannte „Kladmen“ als Unterhändler organisierter Dealer an öffentlichen Orten. Den Konsumenten wiederum führen Koordinaten und Fotos zu den Verstecken.
Russlands restriktive Drogenpolitik nimmt vor allem „kleine Fische“ wie eben jene „Kladmen“ und Konsumenten in den Blick. Statt auf Aufklärung und Bekämpfung des organisierten Drogenhandels setzt man auf hohe Haftstrafen von mindestens 4 bis zu 15 Jahren. Die drohen schon beim Besitz geringer Mengen. Dies spiegelt sich in „Obchodnye puti“ etwa in einer Szene bei einem Underground-Rave am Stadtrand wider. Dieser wird abrupt durch eine Polizeirazzia beendet. In einer weiteren gerät der „Kladmen“, ein junger tätowierter Mann, am Bahnhof in eine nicht sanktionierte polizeiliche Durchsuchung. Die bleibt ohne Ergebnis.
Filmischer Exkurs in Moskaus Drogenszene
Als Protagonist des Films erkennt man diesen Kleinkriminelle allein durch seine wiederkehrenden Auftritte innerhalb der episodischen Aufnahmen. Denn ein konventioneller Spielfilm ist „Obchodnye puti“ nicht nur wegen seines fragmentarischen Sujets nicht. Über den namenlosen „Kladmen“ erfährt das Publikum kaum etwas. In einer Szene ist er beim Abpacken von Drogen in der Badewanne zu sehen, während im Nebenraum die Großmutter Blumen gießt. Eine andere zeigt ihn schlafend im Bett, eine junge Frau im Arm. Warum und wohin er nach der Ankündigung gegenüber seinem Auftraggeber, aussteigen zu wollen, fast unmerklich von der buchstäblichen Bildfläche verschwindet, lässt der Film offen.
Eine Personalisierung der Perspektive bieten auch die langen, statischen Einstellungen nicht an. Den Blickwinkel des Protagonisten nimmt das Publikum nur in einigen wenigen, nochmals medial vermittelten Sequenzen ein. Zum Beispiel dann, wenn der „Kladmen“ auf der Suche nach geeigneten Verstecken mithilfe von Google Maps durch die Straßen Moskaus navigiert oder der Zuschauer über den Handybildschirm die Kommunikation mit dem Auftraggeber via verschlüsseltem Messenger verfolgt.
Klassische Dialoge dagegen fehlen fast ganz. Wenn die Figuren sprechen, fungiert der Ton meist eher als atmosphärisches Element. Bewusst setzt die Regisseurin zudem auf die Amateurfilmästhetik des 16-mm-Schmalfilms, die den Aufnahmen scheinbar zufälliger Situationen in der Moskauer Peripherie den Anschein des Dokumentarischen verleiht.
Inszenierung ohne Moral
Tatsächlich jedoch sind praktisch alle Szenen genau inszeniert. Auch der Ton wurde aufwendig nachproduziert, Dialoge neu eingesprochen, die originale akustische Kulisse Moskaus bearbeitet und dem Rhythmus des Films angepasst. Das berichtet die Regisseurin bei einem Publikumsgespräch im Moskauer Elektrotheater Stanislawskij. Eine allzu glatte Übersetzung in die zeitgenössische Wirklichkeit wird etwa durch Details wie die anachronistische Uniform eines Polizisten, der vor dem Bahnhofsgebäude Schawarma isst, gestört.
So geht der Film auch am Ende nicht in einer moralischen Botschaft auf. Vielmehr eröffnet er einen Raum, in dem sich Fragen stellen, etwa nach dem Verhältnis der bedrückenden Architektur der Vorstädte und den Körpern, die sich durch diese bewegen. Dahingehend beantwortet auch Selenkina die Frage, welchen Sinn ihr Film habe: „Er ist vielleicht, in gewissem Sinne, sinnlos.“
Von Katharina Tönsmann