Das russische Kino von heute: Tscheburaschka, Komödien und Nostalgie

Aktuelle westliche Filme sind in den russischen Kinos selten geworden. Seit Hollywood den Markt meidet, bleiben vor allem die gewohnten Kassenschlager aus. In welchem Maße kann das durch einheimische Produktionen aufgefangen werden? Der Produzent Iwan Nikoforow vom renommierten Filmstudio Vodorod sieht zumindest keinen Grund zum Pessimismus.

Buch- und Trickfilmfigur aus Sowjetzeiten: Mit Tscheburaschka lässt sich das Volk auch heute wieder in die Kinos locken. (Foto: Yellow, Black and White)

Aus Russland haben sich alle westlichen Filmverleiher zurückgezogen. Was bedeutet das für die Kinos?

Die haben es sehr schwer. Viele schließen. Die staatliche Unterstützung im Verleih ist bisher überschaubar, wenn man sie etwa mit der Filmproduktion vergleicht. Dagegen entwickeln sich Streamingdienste mit Riesenschritten, was natürlich erfreulich ist. Zahlreiche Filmpremieren finden mittlerweile im Internet statt. Doch wenn der Verleih auch weiterhin keine angemessenen Zuwendungen erhält, dann wird es Kinos in Zukunft höchstens noch in großen Städten geben. 

Wenn Geld vom Staat mehr oder weniger die einzige Hoffnung für die Branche ist, birgt das dann nicht die Gefahr, dass er diese Abhängigkeit ausnutzt, beispielsweise um seine Ideologie zu verbreiten?

Das Kulturministerium hat unlängst eine Prioritätenliste für Themen bei der Filmproduktion im Jahr 2023 veröffentlicht. Dazu gehören unter anderem die Popularisierung von Heldentum und Patriotismus, der Kultur Russlands und ihrer Regionen sowie der russischen Geschichte. Wie das in der Praxis gehandhabt wird, muss sich zeigen. Bisher war es jedenfalls nicht so, dass Ideologie und eine patriotische Agenda mit Gewalt durchgedrückt worden wären.  

Aber wenn solche Themen quasi verpflichtend würden, dann hätte das natürlich erhebliche Auswirkungen. Die Frage ist allerdings, welches Gewicht solche Filmprojekte überhaupt haben könnten. Ich bin mir nicht sicher, wie interessiert die Großen des Geschäfts daran sind, Filme im Staatsauftrag zu produzieren.

Jedenfalls muss der Regierung klar sein, dass Patriotismus allein die Leute nicht in die Kinos lockt, um dort einheimische Filme zu schauen. Dafür braucht es Abwechslung. Ich glaube deshalb nicht, dass jetzt alles, sagen wir, auf Kriegsfilme ausgerichtet wird. Man wird auch Filme finanzieren, die von allgemeinmenschlichen Werten handeln: Dramen, Komödien und so weiter.

Haben die russischen Filmstudios vor, auch internationale Märkte zu erobern?

Bis zu den Ereignissen vom Februar 2022 war das definitiv ein vordringliches Ziel. Und es gab dabei hin und wieder auch durchaus nennenswerte Erfolge. So schaffte es unser Film „Sputnik“ in der Sparte Horror auf Platz 1 bei Apple iTunes in Amerika. „Nika“ lief bei diversen Filmfestivals, wurde beim Festival South by Southwest ausgezeichnet.

Im vergangenen Jahr hat Netflix mit einigen russischen Filmstudios Verträge abgeschlossen, darunter auch mit unserem. Eine Serie, die Vodorod daraufhin gedreht und geliefert hat, ist bisher nicht erschienen. Aber generell zeugt diese Zusammenarbeit davon, dass unser Markt und die Konkurrenzfähigkeit von Content, der hier erstellt wird, Anerkennung erfährt. Selbst unter den heutigen Umständen strebt unsere Kinoindustrie weiter danach, dass russische Filme nicht nur in Russland gesehen werden.

Was wird nun aus dem Filmfestival Kinotawr in Sotschi?

Alexander Rodnjanski hat Russland verlassen, deshalb ist schwer zu sagen, wie es damit weitergeht. (Anm. d. Red.: Rodnjanski, langjähriger Präsident des Kinotawr und einer der bekanntesten Produzenten im russischen Film und Fernsehen, ist Ukrainer. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine hat er scharf kritisiert und zur Einstellung der Kampfhandlungen aufgerufen. Seit 1. März 2022 lebt er nicht mehr in Russland, wo er zuvor 20 Jahre tätig gewesen war. Das russische Justizministerium hat Rodnjanski im Herbst zum „ausländischen Agenten“ erklärt.) Kino­tawr war das wichtigste Filmfestival in Russland. Daneben gibt es noch das Moskauer Internationale Filmfestival, die Nummer zwei und mit einem anderen Profil. Dort stehen eher Autorenfilme im Vordergrund, darunter viele aus dem Ausland. Vielleicht entstehen jetzt auch andere Initiativen. Doch selbst wenn, dann werden sie in absehbarer Zukunft kaum denselben Stellenwert erreichen.   

Welches Filmgenre lieben die russischen Zuschauer am meisten?

Eindeutig Komödien. Danach folgen Dramen und Märchen. Wobei die thematische Ausgestaltung dieser Genres ganz unterschiedlich ausfallen kann. So kommen patriotische Filme beim Publikum besonders gut an. Als Beispiele könnte man „T-34“, „Stalingrad“ oder „Salut-7“ nennen. Insgesamt wünscht sich der Zuschauer in seiner Masse eher leichtes, positives, bisweilen nostalgisches Kino. Weniger gefragt sind schwierige soziale Stoffe.

Apropos Märchen: Der am 1.  Januar in den Kinos gestartete Film „Tscheburaschka“ hat neue Allzeitrekorde an den Kassen aufgestellt und den lange unangefochtenen Spitzenreiter „Avatar“ von 2009 bei der Zahl der Zuschauer und beim Einspielergebnis überflügelt. Wie ist das zu erklären?

 „Tscheburaschka“ haben neun Millionen Menschen gesehen. (Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt des Interviews. Inzwischen – sechs Wochen nach der Premiere – sind es nach Angaben des Portals Kinopoisk bereits rund 21 Millionen. Das Einspielergebnis wird auf der Seite mit umgerechnet knapp 90 Millionen US-Dollar beziffert, bei Produk­tionskosten von 11 Millionen Dollar.) Das auf mangelnde Konkurrenz zurückzuführen, wäre zu einfach. In den Kinos liefen zur selben Zeit ein weiteres Sequel des allseits beliebten Neujahrsfilms „Jolki“, das Märchen „Tschuk und Gek. Das große Abenteuer“ nach einer Erzählung von Arkadi Gaidar und der Trickfilm „Iwan Zarewitsch und der Graue Wolf 5“. Alles ebenfalls Filme für die ganze Familie.

Ich würde hier vor allem die aufwendige Werbekampagne und wie gesagt die Nostalgie hervorheben. Geschichten, die an Kindheitserinnerungen aus der Sowjetzeit appellieren, kommen an.

Ist das der Grund, weshalb russische Filmstudios so oft auf die sowjetische Vergangenheit zurückgreifen?

Gute Szenarien sind auf der ganzen Welt Mangelware. Deshalb werden ständig Remakes gedreht und Remakes von Remakes. Bei „Tsche­buraschka“ weißt du: Das hat bereits funktioniert, das ist interessant und den Leuten aus der gemeinsamen Sowjetvergangenheit vertraut.

Ein Selbstläufer ist das deshalb aber noch lange nicht. Die Zuschauer sind gegenüber russischen Filmen durchaus kritisch eingestellt. Wer sich für eine Neuauflage oder Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte aus Sowjetzeiten entscheidet, der muss eher mit einem negativen Echo rechnen, als dass er auf Unterstützung und Anerkennung hoffen darf.

Bei Vodorod arbeiten wir gerade an „Vor hundert Jahren in der Zukunft“, der Verfilmung einer Erzählung des sowjetischen Science-Fiction-Autors Kir Bulytschow (1988 in der DDR unter dem Titel „Alissa jagt die Piraten“ erschienen – d. Red.). Wir sind immer auf der Suche nach literarischen Stoffen, um mit ihnen zu arbeiten und sie fürs Kino neu zu denken.

Was erwartet russische Filmliebhaber in den nächsten Monaten?

Es stehen Premieren an, über die geredet werden wird, sowohl im analogen als auch im digitalen Kino. Von einer Degradierung des russischen Films kann meiner Meinung nach keine Rede sein. Im Gegenteil: Sollte der Staat weiter in die Filmindustrie investieren, dann werden die Mittel von den großen Gesellschaften auch an kleinere Auftragnehmer durchgereicht, die sich beispielsweise um Computergrafik, Licht und Ton kümmern. Damit steigt generell der Qualität der Filmproduktionen.

Das Interview führte Warwara Arjajewa.

Die Erfolgsfilme von 2022

Was sind das für russische Filme, die an den Kassen mehr einspielen, als sie gekostet haben? Wir haben uns die zehn kommerziell erfolgreichsten Produktionen angeschaut, die im Jahr 2022 Premiere hatten.

Das Herz von Parma
Mittelalter-Epos um ein ehemaliges Fürstentum auf dem Gebiet der heutigen Region Perm im Vorland des Uralgebirges, das sich gegen seine gottlosen Nachbarn, aber auch das immer mächtiger werdende Moskau zur Wehr setzen muss.

Jolki 9
Die russische Adaption von „Love Actually“ geht in die nächste Runde, erstmals seit 2010 mit neuen Hauptdarstellern.

Mira
Über der Erde, darunter dem äußersten Osten Russlands, geht unterwartet ein Meteoritensturm nieder und richtet schwerste Verwüstungen an. Lera, die ein altes Trauma mit sich herumschleppt, kann gerade noch ihren kleinen Bruder retten. Hilfe kommt dabei von oben. Leras leiblicher Vater arbeitet auf einer Raumstation. Dass ausgerechnet er ihre letzte Hoffnung ist, macht die Sache erst mal nicht einfacher.

Artek. Die große Reise
Vier Kinder geraten kurz nach ihrer Ankunft im Ferienlager Artek auf der Krim ins Jahr 1988, treffen dort auf ihre Eltern und reparieren mit Hilfe der Vergangenheit die Zukunft. Nerviger Abklatsch einer bewährten Idee, dafür mit Pionierhalstuch.

Ich will heiraten
Komödie mit dem Drehort Kaliningrad, ehemals Königsberg, in einer Nebenrolle

Odna (Allein)
Katastrophenfilm nach einer wahren Geschichte: Am 24. August 1981 stoßen über Sibirien ein Passagier- und ein Militärflugzeug zusammen. Wie durch ein Wunder überlebt Larissa Sawizkaja den Absturz aus 5200 Metern Höhe. Danach dauert es jedoch noch zwei Tage, bis die heute 62-Jährige gefunden wird.

Finnik (Trickfilm)
Hausgeist Finnik verbündet sich mit dem Mädchen Kristina, denn die beiden müssen ihre Stadt retten.

Mister Knockout
Kein Kinojahr ohne sowjetische Sporthelden. Der Film erzählt, wie üblich stark ausgeschmückt, das Leben des Boxers Waleri Popen­tschenko nach. Dem reichte 1964 im Finalkampf der Olympischen Spiele die erste Runde, um den Westdeutschen Emil Schulz zu besiegen.

Peter der Große. Letzter Zar und erster Imperator
Der Film zum 350. Geburtstag des Mannes, der das russische Imperium begründete.

Iwan Zarewitsch und der Graue Wolf 5 (Trickfilm)
Plan U, R oder I? Der Schmetterlingseffekt bringt für das ungleiche Tandem einiges durcheinander.

Tino Künzel

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