Gerade noch hatten sie einen längeren Halt eingelegt. In Inta, einer Kohlestadt in der nordrussischen Komi-Republik, waren Passagiere zugestiegen, andere hatten sich auf dem Bahnsteig die Beine vertreten. Die meisten waren zu diesem Zeitpunkt schon sechs Stunden unterwegs. 12.05 Uhr hatte sich der Zug an seinem Ausgangspunkt jenseits des Polarkreises in Bewegung gesetzt. Von Workuta, einst der Kohle wegen von Gulag-Häftlingen mitten in der Tundra hochgezogen, sollte er nach Noworossijsk fahren, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer. 74 Bahnstationen würden im Verlauf von fast dreieinhalb Tagen Fahrzeit zu passieren sein.
Doch es kam anders. Bei nasskaltem Wetter verließ der Zug mit der Nummer 511 um 18 Uhr den Bahnhof von Inta, seine sechste Station. Im Fahrplan war der nächste Halt für 19.40 Uhr vorgesehen. Also werden sich viele der 195 Passagiere einen Tee oder auch eine Fertigsuppe zubereitet haben. Essen und Schlafen sind die beiden Hauptbeschäftigungen auf den oft genug tagelangen Überlandfahrten in Russland.
Regen soll schuld sein
Um 18.12 Uhr passierte dann etwas, das selbst dem Zugpersonal völlig surreal vorgekommen sein muss. Das Gleisbett gab plötzlich nach, die Schiene rutschte nach unten weg. Neun der 14 Waggons entgleisten, verkeilten sich, stürzten um und eine Böschung hinab. Einige blieben in einem Wäldchen liegen, andere direkt über einem Bach, der sich gebärdete wie ein reißender Fluss. Ergiebige Niederschläge wurden später auch für dieses Zugunglück verantwortlich gemacht: Wasser habe die Gleise unterspült. Ein nie und nimmer für möglich gehaltener Albtraum.
Weil die Unfallstelle weit und breit nur von unwegsamem Gelände ohne jegliche Straßen umgeben war, konnte selbst Hilfe nur mit der Bahn herangeschafft werden. Für drei Fahrgäste kam sie allerdings zu spät. Eine 16-Jährige sowie zwei Männer im Alter von 49 und 34 Jahren konnten nur tot geborgen werden. Von den 40 Verletzten mussten zehn in Krankenhäuser eingeliefert werden. Die weitaus meisten Zuginsassen kamen mit dem Schrecken davon. Der allerdings saß tief. „Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst“, sagt eine Frau in einem Video, das sie vor Ort mit ihrem Mobiltelefon gedreht hat.
Wer wollte, konnte in der darauffolgenden Nacht die Fahrt Richtung Süden in einem Ersatzzug fortsetzen. Nach Medienberichten verzichteten sieben Personen darauf, so schnell wieder einen Waggon zu besteigen.
Andere Unglücke mit Todesfolge
Zum Glück sind Unfälle mit derart tragischen Folgen im russischen Bahnnetz äußert selten. Dass sie Menschenleben kosteten, war zuletzt vor zehn Jahren der Fall. Südöstlich von Moskau entgleiste damals zunächst ein Güterzug, mit dem anschließend der Fernzug Moskau-Chișinău kollidierte. Sechs Menschen starben, mehr als 40 erlitten Verletzungen verschiedenen Grades.
Die meisten Todesopfer waren bei Anschlägen zu beklagen. Am 5. Dezember 2003 ging in einem Personenzug unweit des Bahnhofs der Stadt Jessentuki im Kaukasus eine Bombe hoch. 47 Menschen wurden getötet.
Am 27. November 2009 ließen Terroristen den Schnellzug „Newski-Express“ entgleisen, der unterwegs von Moskau nach St. Petersburg war. 28 Passagiere fielen diesem Anschlag zum Opfer.
Alle sonstigen Dimensionen sprengte jedoch ein Unglück, das sich am 3. Juni 1989 in Baschkortostan ereignete. Ein Leck in der Gasleitung „Westsibirien-Ural-Wolgagebiet“ in der Nähe der Bahnlinie führte dazu, dass sich ein leicht entzündliches Gasgemisch über einer Fläche von 250 Hektar ausbreitete. Als sich dort zwei Fernzüge begegneten, von denen der eine von Adler nach Nowosibirsk fuhr und der andere in die Gegenrichtung, sorgte das für den Funken, der eine gewaltige Explosion auslöste. Nach verschiedenen Angaben bezahlten zwischen 575 und 645 Menschen diese Verkettung unglücklicher Umstände mit ihrem Leben.
Tino Künzel