„Junger Mann, kommen Sie bitte mit zur Kontrolle. Laut Überwachungskamera ähneln Sie zu 92 Prozent einem gesuchten Verbrecher.“ Es ist ein kurzer Schockmoment, den der Autor Mitte November in der Metro erlebt. Und der gut ausgeht. Nach ein paar Minuten auf der Wache ist die Situation geklärt, anscheinend wird doch jemand anderes gesucht.
Überführt per Video
Weniger Glück hatte Aljona Popowa. Die Aktivistin demonstrierte im vergangenen April vor der Duma und wurde anschließend anhand von Videobildern zu einer Strafe von 20 000 Rubel (283 Euro) verurteilt. Anfang Oktober schließlich klagte Popowa gegen das Urteil. Die Videoüberwachung mitsamt Gesichtserkennung verletze ihre Persönlichkeitsrechte, so die Klägerin. Moskau ist stolz darauf, eine relativ sichere Stadt zu sein. Eine jüngst veröffentlichte Untersuchung der britischen „Economist Intelligence Unit“ platzierte Russlands Hauptstadt auf Rang 37 der sichersten Metropolen der Welt. Glaubt man Bürgermeister Sergej Sobjanin, ist dieser Erfolg zu großen Teilen der Videoüberwachung zu verdanken. Bereits seit 2011 setzt Russlands Hauptstadt vermehrt auf Kameras im öffentlichen Raum – „sichere Stadt“ nennt sich das Programm. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Agora hat Moskau in den vergangenen sieben Jahren 184,5 Milliarden Rubel (2,6 Milliarden Euro) in die neue Technik investiert.
Kontrolle – auch auf der Arbeit
In einem Interview mit der Unternehmerplattform vc.ru erklärte Dmitrij Golowin, Chef der Abteilung für städtische Videoüberwachung, dass mittlerweile 167.000 Kameras das Geschehen überall in der Stadt im Blick haben und dabei jährlich 1,5 Milliarden Stunden Filmmaterial produzieren. Auch Golowin ist überzeugt, dass die Stadt durch die Überwachung sicherer wird. So werden Aufzeichnungen bei 70 Prozent aller Verbrechen zur Aufklärung herangezogen. 3085 Delikte seien 2017 damit aufgeklärt worden, 14 Prozent mehr als im Jahr zuvor, so Golowin. Hauptsächlich handelt es sich dabei um kleinere Vergehen wie Vandalismus, Diebstähle und Unfälle. Die vielen Kameras haben aber auch einen weiteren Nutzen, glaubt der Chefüberwacher. Denn mittlerweile nutzen 60 Prozent der städtischen Unternehmen das Videomaterial, um zu überprüfen, ob ihre Angestellten ihre Arbeit erledigen, etwa ob Hausmeister auch wirklich den Hof fegen. Um noch mehr Kriminelle aufzuspüren, setzt Moskau zunehmend auf Gesichtserkennung. Die wurde 2017 hauptsächlich in der Metro eingeführt. Und das vor allem an Stationen, an denen es zuvor jahrelang keine Festnahmen gab, wie aus einem im Juni veröffentlichten Bericht des Innenministeriums hervorgeht. Nach der Einrichtung der Kameras werden monatlich fünf bis zehn Gesuchte aufgegriffen, heißt es weiter. Sobjanin will auf diesem „Erfolg“ aufbauen und auch auf der Straße Gesichter scannen. Das werde „geil“, so der Bürgermeister. Denn „Verbrecher werden sich von Moskau fernhalten, hier können sie sich nicht mehr verstecken“, so Sobjanin in einem Beitrag auf Vkontakte. Und der Bürgermeister träumt von mehr. Im Mai dieses Jahres sprach er davon, die Zahl der Kameras auf 200 000 zu erhöhen und damit eines der größten Netze der Welt zu schaffen. Übertroffen nur noch von China.
Zwischen Silicon Valley und Peking
Dass ausgerechnet das Reich der Mitte Moskaus Vorbild ist, sehen Menschenrechtler und Aktivisten kritisch. Sie befürchten nicht nur, dass die Regierung mit dem Einsatz vom Kameras gegen Proteste vorgehen könne, sondern auch versuchen werde, Verbrechen nicht aufzuklären, sondern gleich zu verhindern. Dass es aber in Russland demnächst wirklich chinesische Verhältnisse gibt, glaubt der Politologe Malek Dudakow indes nicht. Dafür sei das Niveau der Digitalisierung noch zu niedrig. Außerdem habe die russische Regierung kein Interesse an Massenverfolgungen, so Dudakow gegenüber der „Nowaja Gaseta“. Auch Sarkis Darbinjan, Anwalt der Nichtregierungsorganisation Roskomswoboda, hält die Technik in Russland noch nicht für ausgereift. Noch befinde sich Moskau irgendwo zwischen dem Silicon Valley und Peking, so Darbinjan.
Daniel Säwert